Full text: Auswahl für das Feld.

weniges von dem, was dieses Weib umgibt und ihr Hirn be— 
schäftigt, ist wirklich neu, und wie viel mehr davon war schon 
ebenso vor tausend Jahren! Oder man blicke auf die Entwicklung 
der Wissenschaften: alle die einfachsten Grundgesetze, welche den 
Nachlebenden selbstverständlich erscheinen, sind erst nach langer Müh— 
sal gefunden. Wie viele Millionen Äpfel mußten zur Erde fallen, 
bevor Newton das Gesetz der Schwere entdeckte! Und in welchen 
künstlichen Irrlehren hat die Volkswirtschaftslehre sich abgemüht, 
indem sie bald das Metallgeld, bald die Grundstücke für den ein- 
zigen Bestandteil des Volkswohlstandes erklärte, bis endlich die 
neueste Zeit den trivialen Satz fand, daß jede Tätigkeit, welche 
neue Werte erzeugt, das Volksvermögen vermehrt! Wer solches 
erwägt, kann nur mit Lächeln der Besorgnis gedenken, es könnte 
je zu hell werden unter uns blöden Sterblichen! 
Und ist es denn wahr, daß die freie Forschung jemals die Ruhe 
der Gesellschaft gewaltsam erschüttert habe? Nein, wo immer die 
Menschen um Meinungen sich zerfleischten, da geschah es, weil das 
unterdrückte Denken mit leidenschaftlicher Wildheit das alte Joch 
zerbrach. Lassen wir uns ja nicht einwiegen in trügerische Sicher- 
heit von der immer wieder nachgebeteten Lehre, daß der Wahrheit 
eine Allmacht innewohne, welche ihr aller Verfolgung zum Trotz 
immer wieder zum Siege verhelfe. Das ist, in solcher Allgemein- 
heit hingestellt, ein gefährlicher Irrtum. Nicht sie freilich irrten, 
die Sokrates, Hus, Hutten und wie sie sonst heißen, die gewal- 
tigen Dulder, welche noch in letzter Qual die Unsterblichkeit der 
Wahrheit verkündeten. Denn es gibt eine vornehme Höhe des 
Geistes, von welcher herab dem Sterblichen vergönnt ist, die 
Schranken der Zeit lächelnd zu überblicken. Gewiß, eine Wahr- 
heit, welche heute erst einen einsamen verachteten Denker in seinem 
Kämmerlein mit seliger Freude durchschauert, irgendwo und irgend- 
wann wird sie dereinst von den Dächern gepredigt werden, auch 
wenn er sie schweigend in sein Grab nahm. Dies leugnen hieße 
an der göttlichen Natur der Menschheit verzweifeln. Wir aber, 
die wir in der Zeit leben, sollen ernsthaft dem rechten Sinne des 
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