Full text: Deutsches Lesebuch. Zweiter Theil. Realienbuch. (2)

31. Die Herbstzeitlose. 39 
bockkraut, die Dotterblume, den goldhaarigen Hahnenfuß ꝛc. in 
die Farbe der leuchtenden Morgensonne gekleidet, so macht sich 
jetzt ein blasses Roth, von tausend und aber tausend Herbst— 
zeitlosen herrührend, auf den fahlen Wiesen breit. 
Zeitlose! Ein bezeichnender Name; denn diese Pflanze bildet 
hinsichtlich der Zeit, in welcher sich ihre Theile entwickeln, zu allen 
andern, die während des Jahres kommen und gehen, einen ent— 
schiedenen Gegensatz. 
Entfalten die übrigen Pflanzen während der wärmeren 
Jahreszeit rasch nach einander im fröhlichen Sonnenscheine 
Stengel, Blätter, Zweige, Blüten und Früchte, so steigt dagegen 
die Blüte der Herbstzeitlose, alles Blätterschmuckes bar, als 
lebendiges Fragezeichen aus der Erde empor, um nach kurzer 
Zeit scheinbar spurlos zu verschwinden, und geheimnißvoll bildet 
sich im Schooße der Erde die Frucht, die sich sechs Monate 
darauf, nachdem längst die Wiese mit frischem Grün und leuch- 
tenden Blüten bedeckt ist, zugleich mit den Blättern, verstohlen, 
als habe sie kein gutes Gewissen, unter die Kinder des Früh- 
lings mischt. 
Die Herbstzeitlose kommt in unserm Vaterlande nur bis 
zum 52. Grade der nördlichen Breite vor. 
Wollen wir ihre Blüte genauer kennen lernen, so darf es 
uns nicht verdrießen, verhältnißmäßig tief in den Boden einzu- 
dringen. Endlich stoßen wir auf eine feste, nicht häutige oder 
blätterige Zwiebel, aus welcher unmittelbar mehrere Blüten 
sprießen. 
Jede Blüte bildet eine fast spannelange Röhre, welche 
trichterformig sich erweitert und in sechs nervigen Blütenblättern 
endet. 
Aus der Sechstheilung der Blüte dürfen wir schließen, 
daß die Zahl 6 bei dieser Blüte eine Rolle spiele. So ist es 
auch. Wir bemerken in jeder Blüte außer dem Fruchtboden 
und 3 Griffeln 6 Staubfäden, die da, wo sich die Röhre zum 
Trichter erweitert, wechselweise höher an die Blütenkrone an- 
gefügt sind. 
Die Blätter, welche, wie schon bemerkt, erst im nächsten 
Frühling erscheinen, sind breitlanzettlich, nach unten und der Spitze 
zu schmäler und steif. 
Die Frucht ist eine aufgeblasene Kapsel mit mehreren Fächern. 
Diese treten im reifen Zustande aus einander, springen einwärts 
auf und enthalten schwarze Samenkörner, die als giftig mit 
Recht in einem schlechten Ruse stehen. 
Werden bisweilen im Herbst durch Ueberschwemmungen 
die Blüten an ihrer Entwicklung gehindert, so sprießen sie im 
nächsten Frühling zugleich mit den Blättern herivor, sind aber 
dann meist kleiner als gewöhnlich und haben unvollkommen ent-
	        
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