Full text: Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte Königreich Sachsen (Vierter Band Erstes Heft)

Königreich Sachsen. 45 
zur Gestattung von Ausnahmen von dem für die besoldeten 
Ratsmitglieder bestehenden Verbote des Nebenerwerbs (oben § 9, 6). 
6. Ein gutachtliches Gehör der Stadtverordneten verlangt die RStO. 
vor Erlaß von Regulativen oder sonstigen allgemeinen ortspolizeilichen An- 
ordnungen, welche mehr als die bloße Ausführung gesetzlicher Vorschriften 
enthalten. RStO. 68. 
Auch die „Gutachten“ der Stadtverordneten sind Willens erklärungen 
derselben als Vertreter der Gemeinde dem Stadtrate gegenüber, nicht sind 
sie Sachverständigengutachten. Die Stadtverordneten als solche sind nicht 
Sachverständige im Sinne der Rechtsordnung 1; denn das Vorhandensein 
oder Nichtvorhandensein oder die wahre Beschaffenheit oder Lage einer 
Sache? kann nicht Gegenstand eines Mehrheitsbeschlusses sein, vielmehr ist 
jeder Mehrheitsbeschluß Willensäußerung; auch das gerichtliche „Feststellungs- 
urteil“ ist nur Willensäußerung darüber, was als feststehend betrachtet und 
behandelt werden soll, und seine Gültigkeit beruht nicht auf seiner tatsäch- 
lichen Richtigkeit, sondern erst auf seiner Rechtskraft 3. Gewiß soll der 
Richter das Recht kennen und erkennen; aber nicht die Erkenntnis, sondern 
erst das Erkenntnis, die Willensäußerung, daß das von ihm als Recht 
Erkannte auch als Recht gelten soll, verhilft seiner Erkenntnis oder der Er- 
kenntnis der (vielleicht tatsächlich im Irrtume befangenen) Mehrheit zur 
Rechtswirksamkeit. Die Stadtverordneten sind daher in den ihnen zur 
„Begutachtung“ vorgelegten Fällen nicht verbunden zur Einholung einer 
fachmännischen Erklärung und nicht gebunden an die Erkenntnis eines oder 
mehrerer etwa unter ihnen befindlicher Fachleute, vielmehr erklären sie als 
Vertreter der Gemeinde auch in diesen Fällen lediglich ihren Willen, und 
diese Willenserklärungen unterscheiden sich von ihren oben besprochenen 
Willenserklärungen nur in bezug auf die Rechtswirksamkeit 4, insofern als 
1 Selbstverständlich liegt es dem Verfasser fern, damit auch nur andeuten zu 
wollen, daß es irgend ein Ding zwischen Himmel und Erde oder nach oben oder 
unten darüber hinaus geben könnte, von dem jemand, dem Gott das Amt eines 
Stadtverordneten gegeben, nichts verstände: an einer solchen Andentung hindert 
den Verfasser nicht nur seine Höflichkeit, sondern auch seine Friedfertigkeit. 
2 Z. B. das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Rechtssatzes, der 
Umfang der Erde, der tatsächliche Feingehalt eines Goldpokals, der Zeitpunkt, auf 
den der Frühjahrsvollmond des Jahres 2000 fallen wird usw. 
3 Vgl. hierzu auch die schönen Ausführungen bei O. Bülow, Gesetz und 
Richteramt. Leipzig 1885. S. 6 ff. 
4 Daß diese Sachlage auch durch die etwaige Abgabe eines Mehrheits= und 
Minderheitsgutachtens nicht geändert wird, bedarf nicht der Ausführung.
	        
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