Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

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Reichstag. — 196. Sitzung. Freitag den 25. Oktober 1918. 
  
(Schlee, Abgeordneter.) 
(A gehört, bei dem der Thorner Bürgermeister Rösner hin- 
gerichtet worden ist ohne jeden Grund?! Meine Herren, 
wer so im Glashause sitzt, soll nicht mit Steinen werfen! 
(Stürmischer Beifall rechts.) 
Ihre polnische Freiheit kennen wir! Wir verzichten auf 
sie, wir danken dafür! Im Gegenteil, wir werden ver- 
hüten, Mann für Mann, daß Sie jemals in unser Land 
ommen! 
Und dann, was haben Sie denn getan? Die Knochen 
von Hunderttausenden unserer Soldaten bleichen auf den 
Gefilden Polens, die Ihnen das freie Polenreich erkämpft 
haben, gegen den Willen des großen Teils der deutschen 
Bevölkerung! Damals habe ich mir gesagt mit bitterem 
Schmerz: Weiß Gott, die größten Kälber wählen ihre 
Schlächter selber. 
(Sehr wahrl) 
Sie haben wir als unser Unglück an unsere Seite gestellt. 
Sie sollen uns nicht dankbar sein, — das verlangt nie- 
mand; aber bescheiden sollten Sie sein! Nichts haben 
Sie getan für die Erringung des Königreichs Polen! 
Große Worte haben Sie gemacht, und jetzt kommen Sie 
her und verlangen deutsches Land und deutsches Volk! 
Und wie ein Hohn klingt es auf alle diese Gerechtigkeits- 
phrasen, wenn Sie sagen: Ja, wenn Danzig unter pol- 
nische Herrschaft kommt, so muß es eben das Los der 
Minderheit tragen. Wie kommen Sie dazu, von uns zu 
verlangen, daß wir dieses Los tragen sollen, während 
Sie es zu tragen hätten kraft Gesetzes, Geschichte und 
Herkommen. 
(Lebhaftes Bravo rechts.) 
Also damit kommen Sie uns doch nicht! Und wenn Sie 
glauben, uns damit schrecken zu können, daß Sie Zwie- 
tracht in unserem Volke säen werden, dann sage ich Ihnen: 
alle Parteien im deutschen Osten, hoch und niedrig, alt 
und jung, arm und reich sagen Ihnen: wenn ihr die 
(3) deutschen Provinzen haben wollt, dann kommt und holt 
sie euch! Ihr werdet euch blutige Köpfe holen. 
(Stürmischer Beifall rechts und bei den National- 
liberalen. — Händeklatschen und Bravorufe auf 
der Zuhörertribüne. — Erregte Zurufe von den 
Polen. — Erneuter Beifall. — Glocke des Präsi- 
denten.) 
Vizepräsident Dove: Es ist nicht gestattet, daß auf 
der Tribüne Meinungsäußerungen durch Klatschen oder 
sonstwie kundgegeben werden! 
Das Wort hat der Herr Abgebordnete Dr. Cohn 
(Nordhausen). 
(Andauernde große Unruhe.) 
Meine Herren, ich bitte um Ruhe und ersuche, die 
Unterhaltungen zu unterlassen. Es kann ja kein Redner 
zu Worte kommen. 
Dr. Cohn (Nordhausen), Abgeordneter: Meine 
Herren, ich mochte glauben, daß die Bemerkungen, die ich 
zu machen habe, die Erregung nicht verschärfen werden, 
die sich gegenwärtig des Hauses bemächtigt hat. Ich habe 
nur in aller Kürze folgendes festzustellen. Mein Freund 
Ledebour hat zwar die Sprache ein wichtiges Kennzeichen 
der Nationalität genannt. Er aber wie meine gesamte 
Fraktion sehen als das wichtigste und wesentlichste Merk- 
mal der Zugehörigkeit zu einer Nationalität den Willen 
des einzelnen, der Volkheit an, sich dieser Nationalität 
zuzuwenden. Das ist eine notwendige Folgerung aus dem 
Rechte zur Selbstbestimmung des einzelnen und der Nation. 
Die Frage der Staatszugehörigkeit steht demgegenüber sehr 
weit zurück. Restlos nationale und sprachlich einheitliche 
Staaten sind nirgends gegeben. Es kommt in jedem einzelnen 
konkreten Falle darauf an, den nationalen Minderheiten 
einen ausreichenden Schutz nicht nur durch formale gesetz- 
liche Bestimmungen zu versprechen, sondern durch die 
  
Praxis des täglichen staatlichen, gesellschaftlichen Lebens (O 
zu gewährleisten. Nach dieser Richtung haben wir uns 
in der Stockholmer Erklärung bei den vorzährigen 
sozialistischen Besprechungen mit hinreichender Deutlichkeit 
bereits geäußert, und die polnischen Kollegen, die gestern 
und heute mit solcher Entschiedenheit behauptet haben, 
daß, wie das alte Polen ein Hort auch des Schutzes der 
nationalen Minderheiten gewesen sei, so auch das neu 
werdende es sein werde, werden hoffentlich dieses Versprechen 
wahr machen. Man wird sie daran erinnern, nicht nur 
in ihrem Verhalten gegenüber den Juden, worauf der 
Herr Kollege Gothein schon hingewiesen hat, sondern auch 
gegenüber den anderen nationalen kleinen Einsprengseln, 
die sich in ihrem Reiche finden werden, wie sie es auch 
immer gestalten. 
UÜber die dänische Frage hat gestern der Herr Staats- 
sekretär Solf sich dahin geäußert, daß er, „nachdem das 
Wilsonsche Programm als die Grundlage des Gesamt- 
friedenswerkes angenommen“ sei, es „nach allen Richtungen 
hin und in allen Punkten loyal und im Sinne voller 
Gerechtigkeit und Billigkeit erfüllen“ werde. Gegenüber 
diesen Grundsätzen hat freilich der Herr Staatssekretär 
mit den Dänen eine Ausnahme machen wollen, indem er 
sagte, hier liege ein Vertrag nur zwischen Osterreich und 
Deutschland vor, der durch Abmachungen im Jahre 1878 
aufgehoben worden sei. Mein Freund Ledebour hat 
gestern mit vollem Recht durch einen Zwischenruf darauf 
hingewiesen, daß dies ein zu formalistischer Standpunkt 
sei, und ich darf den Herrn Staatssekretär Solf und die 
deutsche Regierung an das Versprechen erinnern, das 
gestern abgegeben worden ist: nicht auf die formalen 
Vertragsbestimmungen kann es ankommen, sondern, wenn 
einmal die dänische Frage aufgeworfen worden ist, müssen 
die nationalen Grenzstreitigkeiten zwischen Dänemark und 
Preußen im Sinne dieser Grundsätze und unter keinen 
Umständen gegen den Willen der nordschleswigschen Be- 
völkerung gelöst werden. Es muß sich ja bei einer loyal 
durchgeführten Abstimmung ergeben, wohin der über- 
wiegende Wille der nordschleswigschen Bevölkerung geht. 
Über Elsaß-Lothringen und die Regelung seines künf- 
tigen Schicksals wenige Worte. Wir haben wegen Elsaß- 
Lothringens immer auf dem Standpunkt gestanden und 
dies auch namentlich in unserem Stockholmer Manifest 
zum Ausdruck gebracht: Elsaß-Lothringen durfte keinen 
Kriegsgrund in der Vergangenheit abgeben — hierin 
wissen wir uns völlig eins mit unseren sozialistischen 
Freunden in Frankreich —, und es darf in der Zukunft 
unter keinen Umständen einen Grund zur Kriegsverlängerung 
abgeben. Ob das endliche Schicksal von Elsaß-Lothringen 
auf Grund einer Abstimmung festzustellen sei, das ist eine 
Frage, die mitten im Flusse der Entwicklung steht. Ich 
darf auch hier daran erinnern, daß wir im Sommer 
vorigen Jahres in dem schon mehrfach genannten Stock- 
holmer Manifest empfohlen haben, in ehrlicher, ordnungs- 
mäßiger Abstimmung, die einige Zeit nach dem Kriege 
stattzufinden hätte, den Willen der Bevölkerung zu er- 
forschen und nach diesem Willen loyal zu handeln. 
Wenige Worte, meine Herren, zu der Gesetzesvorlage, 
die uns heute in dritter Lesung beschäftigt! Was jetzt 
aus den Beschlüssen zweiter Lesung hervorgegangen ist, ist 
zweifellos eine Verbesserung des Artikel 11 gegenüber 
dem heutigen Rechtszustande. Man darf indes nicht an 
die alleinseligmachende Kraft formaler Verfassungs- 
bestimmungen glauben. Man muß sich klar sein, daß 
dieses geschriebene Recht nur eine relative Bedeutung 
haben kann. Für die jetzige Zeit, für den jetzigen Fall 
ist von dem Artikel 11 nur der Absatz 2 wichtig, die 
Beteiligung des Reichstags am Friedensschlusse. Ob 
aber, wie in Absatz 1 vorgesehen ist, der Reichstag noch 
in einem künftigen Falle einer Kriegserbklärung, einem 
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