Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

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Reichstag. — 193. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918. 
  
  
(Ebert, Abgeordneter.) 
(A) Durch unseren Eintritt in die Regierung übernehmen wir 
keinerlei Verantwortung für ihre bisherige Politik. 
(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) 
Im Gegenteil! Unser Eintritt in die Regierung zieht einen 
dicken Trennungsstrich zwischen dem, was vor und dem, 
was nach dem 5. Oktober geschah. 
(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) 
Der jetzige Umschwung, die jetzt erfolgte Parlamentari- 
sierung verurteilt durch sich selbst die Sünden des früheren 
Systems. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 
Wir haben zu den Regierungen immer in Gegensatz ge- 
standen; wir haben sie bekämpft, wo es notwendig war, 
und haben durch Ablehnung des Etats über unsere 
Stellung zur Gesamtpolitik der Regierung keinerlei 
Zweifel gelassen. Aber was immer in der Vergangenheit 
verfehlt worden sein mag: wir mußten versuchen zu ver- 
hindern, daß das unschuldige deutsche Volk darunter leidet, 
daran zusammenbricht. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 
Wir wissen: ein böses Erbe haben wir übernommen; 
wir müssen viel Ballast auswerfen, um das Staatsschiff 
in den Friedenshafen zu retten. Nicht den besitzenden 
Klassen zuliebe, sondern für die Zukunft des Staates, der 
einst dem ganzen Volke gehören soll, zur Beschleunigung 
des Friedens, zur Verbesserung der Friedensaussichten 
haben wir in schwerster Zeit das Opfer gebracht. Für 
eine engumgrenzte Arbeit haben wir uns mit allen denen 
zusammengeschlossen, die für den Rechtsfrieden und die 
Demokratisierung sind. Gelingt uns unsere Aufgabe, so 
ist das ein Segen nicht sowohl für uns wie für das 
deutsche Volk. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 
Von unseren grundsätzlichen Aufgaben und An- 
(8) schauungen haben wir nichts preisgegeben und nichts 
verleugnet. Unser Programm ist das alte. Unser Kampf 
gilt nach wie vor der Durchführung der Rechte und 
Interessen des arbeitenden Volkes. 
(Beifall bei den Sozialdemokraten.) 
Wir sind, was wir waren, und bleiben, was wir sind: 
Sozialdemokraten! Anhänger der internationalen Völker- 
gemeinschaft, Kämpfer für die Befreiung der Menschheit 
vom Elend des Krieges, aus der Not des Kapitalismus, 
der ihn verschuldet hat, Feinde jeder Ausbeutung und 
Unterdrückung. 
Aber unbeschadet unseres Programms haben wir uns 
jetzt an die Bewältigung einer Aufgabe gemacht, die 
sofort gelöst werden muß, soll nicht die deutsche Arbeiter- 
schaft schwersten Schaden erleiden. 
(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) 
Im Dienste unserer todumdrohten Soldaten an der Front, 
im Dienste unserer darbenden Arbeiter und Kinder in der 
Heimat wollen wir den Frieden schaffen. 
Mit Ruhe und Festigkeit sehen wir dem entgegen, 
was unser Friedensschritt bringt. Hab und Gut können 
wir verlieren, — die Kraft, die Neues schafft, kann uns 
aber keiner nehmen. 
(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) 
Was auch kommen mag: wir bleiben stehen in der Mitte 
Europas als ein zahlreiches, tüchtiges, ehrliebendes Volk. 
Wollen die anderen Völker fortab unsere Freunde sein, 
so wird das ein Gewinn sein für uns und für sie; 
(sehr wahr! bei den Sozialdemokraten) 
wollen sie unsere Feinde bleiben, indem sie uns als Aus- 
wurf der Menschheit und als ihre Schuldknechte behandeln, 
6 rufen wir ihnen zu: nehmt euch in acht, jede Knecht- 
chaft hat einmal ein Endel 
(Bravol bei den Sozialdemokraten und links.) 
  
Wir deutschen Sozialdemokraten wollen, daß der (O 
kommende Frieden ein fester, ewiger Bundesfrieden freier 
und gleichberechtigter Völker wird. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 
Alle Freunde dieses großen Gedankens in der Welt rufen 
wir an, uns bei seiner Verwirklichung zu helfen, denn 
wir glauben an die Menschheit. Erleben wir eine Ent- 
täuschung, so werden wir nicht verzagen, denn wir glauben 
an unser Volk. Zu ihm wollen wir dann in Treue stehen, 
bis auch ihm die Freiheitsstunde schlägt. 
(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.) 
Vizepräsident Dove: Das Wort hat der Herr Ab- 
geordnete D. Naumann (Waldeck). 
D. Naumann (Waldeck), Abgeordneter: Anknüpfend 
an die Worte des Herrn Reichskanzlers und an die meiner 
beiden Vorredner beginne auch ich zuerst mit dem Gedenken 
an die deutsche Armee. Denn niemals mehr als jetzt in 
diesen schweren, spannenden Kampfestagen verdient die 
Armee den doppelten und dreifachen Dank des ganzen 
Vaterlandes und der Volksvertreter. 
(Bravo! links.) 
Gerade wenn Zeitpunkte eintreten, an denen die Kräfte 
nicht mehr immer und überall auszureichen scheinen, 
ist das Werk derer, die halten, was gehalten werden kann, 
die auch mit Druck auf der Seele tapfer kämpfend stehen 
bleiben, aller doppelten und dreifachen Ehre wert. 
(Bravo! links.) 
Und gedenken wir, was in diesen Jahren die Armee, 
dieses Volksheer, durchgemacht hat! Wenn heute so viel 
über eine kommende Zeit gesprochen wird, in der der 
Militarismus nicht mehr sein wird, eine Zeit, von der 
wir hoffen, daß sie durch die Bemühungen des Völker- 
bundes angebahnt wird, so wird weit hinaus in die 
Gefilde der Zukunft der Glanz dieser deutschen Leistungen 
leuchten, die jetzt von unserer letzten größten deutschen (D) 
Armee geleistet worden sind. 
(Bravo! links.) 
Die Leute, die jetzt da draußen Ubermenschliches für Volk 
und Vaterland getan haben, werden dabei noch immer 
dunkel umgeben von dem Bewußtsein, nicht voll zu wissen, 
wie eigentlich ihre Stellung im heimatlichen Volke ist. 
Denn während sie draußen kämpfen, wurde hier in Preußen 
die langwierige und peinliche Wahlrechtskomödie abgespielt. 
(Sehr richtig! links.) 
Während sie draußen Helden erster Klasse waren, galten 
sie daheim noch bis vor kurzem und jetzt als Staats- 
bürger dritter Klasse. 
(Erneute Zustimmung links.) 
Jenes Gefühl, welches sich in dem alten lateinischen 
Worte ausspricht: „GQuidquid delirant reges, plectuntur 
Achivi“, ist wohl auch jenen draußen durch den Sinn 
gegangen: „Wenn die Herrscher im Wahne sich streiten, 
müssen die kleinen Leute es leiden.“" Dann muß die 
Masse es aushalten, es austragen, ihr Leben für Zwecke 
hingeben, in denen sie geordert wird, kommandiert wird 
und regiert wird, und wobei fast niemals das Gefühl 
auftaucht: wir sind es selbst! Denn seien wir offen, wie 
klein konnte bisher unter den deutschen Verhältnissen, die 
wir gehabt haben, für die Menge der Menschen, für den 
Durchschnitt der kleinen Leute, der Kleinbauern, der 
Handwerker, der Arbeiter, das Gefühl sein, daß sie nicht 
nur Objekt, sondern auch Subjekt des weltgeschicht- 
lichen Vorgangs sind! Es mußte ihnen erscheinen, 
daß sie ihr Leben zum Opfer geben für ein Schicksal, 
das weit über ihnen irgendwo in Wolken und Nebel wohnt, 
sie aber laufen unten im Nebel gegen grauenvolle Tanks. 
Wenn wir doch wüßten: wozu und wohin, und wenn wir 
wüßten, daß wir wenigstens vertreten werden von denen, 
die wir selber uns aussuchen, denen wir unser Vertrauen
	        
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