Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

(A entgegenbringen! 
Reichstag. — 193. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918. 
6167 
  
(D. Naumann (Waldeckl, Abgeordneter.) 
Was würde das für eine Kraft geben: 
ein deutsches Heer, erfüllt von dem unmittelbaren Ver- 
trauen: wir und unsere Regierung sind eins! Eine 
lebendig arbeitende, der Zukunft entgegenschaffende orga- 
nische Masse, das ist es, was der Herr Reichskanzler in 
seiner ersten Rede verlangt hat, wenn er sagt: er würde 
seine Stellung nicht einnehmen können, wenn er nicht die- 
jenige Kraft hinter sich wüßte, die aus dem Vertrauen 
der Masse entspringt, die aus jenen unzähligen einzelnen 
Seelen herauskommt, von denen jede einzelne klein ist, 
und die ein durchschnittliches gleiches Schicksal haben, die 
aber addiert das Volk sind, die Nation. 
Heute hat der Herr Reichskanzler zu diesem Satz hin- 
zugefügt: „die Nation darf nicht blind an den Verhandlungs 
tisch geführt werden". Alte Staatsweisheit war, dem Volke 
zu sagen: Blind sollt ihr vertrauen, wenn ihr geführt werdet! 
Es ist ein neuer Ton, wenn jetzt die Musik bei uns ansetzt 
mit dem Einsatz: Nicht blind sollt ihr zum Verhandlungs- 
tische geführt werden! Aktivität des Volkes! Die Mehr- 
heit, die Menge soll mitschaffen, soll mitreden! — Das 
war nicht das Prinzip der bisherigen deutschen Ver- 
gangenheit, und keiner unter uns, die wir um die Dinge 
des Staates uns bemühen, wird jetzt in diesen Wochen 
Tage und Nächte verbringen, ohne im Geiste zu debattieren 
mit dem, der der Schöpfer und Aufrichter des bisherigen 
Systems gewesen ist, das jetzt unter unseren Händen im 
Kriege sich wandelt. Es besteht auf allen Seiten eine 
gewisse Debatte mit dem Größten der vorvorigen 
Generation. Wir sprechen in unseren Gedanken mit 
Bismarck; denn das System, das durch die neue Regierung 
beendet wird, ist und war das System, das Bismarck 
uns eingerichtet hat, jenes System, das von den Jahren 
1866 und 1870 an bis jetzt zum Kriege und bis 1918 
gedauert hat, ein System, welches zwar den Rechten des 
Volkes nicht von vornherein ablehnend gegenüberstand, 
(3) da es ja das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht 
für den Reichstag von Anfang an zu seiner Parole 
gemacht hatte, aber dieses Wahlrecht so hineinarbeitete 
und künstlich einfügte in die Quadern und Mauern vorher 
begonnener Bauten, daß daraus ein Regierungssystem 
wurde, welches der Vergangenheit gegenüber sicherlich ein 
gewaltiger Fortschritt, aber der kommenden Zeit gegen- 
über ein zu enges Gehäuse geworden ist. Dieses Bis- 
marckische System, von dem die deutsche Regierung heute 
unter Führung des Prinzen Max von Baden und unter 
Teilnahme der hier sitzenden Mitglieder der Mehrheits- 
parteien sich loslöst, war seinerzeit notwendig, um die 
Einigung des deutschen Volkes herbeizuführen. Jenes 
zerspaltene deutsche Volk mit allen seinen Kleinstaaten, 
das Bismarck vorfand, mit seinen vielen Monarchen, mit 
seiner unfertigen politischen Ausbildung konnte noch nicht 
den Gedanken des Jahres 1848 verwirklichen. Es mußte 
erst diktatorisch zusammengefaßt werden, und es war eine 
Gnade der Vorsehung, daß der große Diktator für diese 
Zusammenfassung uns gegeben wurde. Bismarck schuf für 
seine diktatorische Gestalt das dazu passende notwendige 
übermenschliche Amt, jenes Amt eines Reichskanzlers, der 
verantwortlich ist der Geschichte und der Unendlichkeit 
gegenüber, auch der Dynastie gegenüber, der aber dem 
Volke gegenüber nichts hat von direkter Abhängigkeit und 
Verantwortlichkeit. Mit diesem System haben wir seit 
50 Jahren gearbeitet und geschafft — 
(uruf rechts) 
— ich komme eben auf den Erfolg; ich folge Ihren 
Wünschen von selbst! — mit diesem System hat mehr als 
eine Generation gearbeitet, und ich wollte eben sagen: es 
beweist die Größe des Bismarckischen Griffes, daß in 
dieser Periode mit dem gemischten diktatorisch-parlamen— 
tarischen System diejenige wirtschaftliche und kulturelle 
Entwicklung des deutschen Volkes eintreten konnte, auf die 
  
wir jetzt, im Kriege, mit doppeltem wehmütigen Stolze (0) 
zurückblicken, weil vieles zunächst zerbrochen daliegt, was 
in dieser Epoche gewonnen und geschaffen wurde. Es 
war möglich, durch dieses Bismarckische System dasjenige 
Volk herzustellen, das die Kräfte hatte, im großen Kriege 
vier Jahre und länger auszuhalten gegen eine ganze 
Welt von Feinden. Aber wenn das die historische 
Leistung des vergangenen Systems ist, so zeigt es sich 
nun im Kriege schärfer als vorher, daß das Bismarckische 
Reich eben doch kein voller Staat des Volkes war. 
Wenn man das deutsche Volk in seiner Menge braucht 
und ruft bis in jedes Bergwerk hinein und bis in jede 
Arbeiterhütte und jedes Arbeitergehirn hinein, so muß der 
Tropfen demokratischen Ols, von dem Uhland in der 
Paulskirche in Frankfurt gesprochen hat, ganz anders 
niederrieseln auf unser Volk, damit aus ihm diejenige 
Kraft entsteht, aus tiefverletztem Zustand heraus wieder 
emporzusteigen und unter den Völkern neu anzufangen. 
Die Zeit fordert eine nächstweitere Periode. Warum ist 
denn diese nächstweitere Periode nötig? Warum hat das 
alte System nicht auch weiterhin verbindliche Kraft? 
Weil das bisherige System im Kriege zwei notwendige 
große Dinge nicht geleistet hat. Es hat nicht geleistet 
die Einheitlichkeit der Regierung, und es hat nicht ge- 
leistet die Verkörperung des nationalen Einheits- 
gedankens. An diesen zwei starken Mängeln geht es 
jetzt zugrunde. 
Das System der Bismarckischen Epoche leistete also 
nicht die Einheitlichleit der Leitung. Wenn wir früher 
in vergangenen Jahren über die Vorzüge der Monarchie 
debattiert haben — und ich habe mich reichlich an diesen 
Aussprachen beteiligt —, so war es einer der gewöhn- 
lichen Gedankengänge: die Monarchie hat gegenüber einem 
republikanisch-demokratischen System den Vorteil, daß sie 
gerade in Zeiten schwerer Not und äußersten Kampfes 
die Einheitlichkeit der Leitung garantiert, während in (D) 
republikanischen Staaten die Staatseinheit unter der 
Rivalität und Konkurrenz der untereinander streitenden 
Staatsmänner und Feldherren verloren geht. Diese 
Argumentation ist vielleicht in der Theorie ganz richtig 
gewesen. Nun aber kam der wirkliche große Krieg, und 
in diesem Kriege zeigte es sich, daß die Einheitlichkeit 
durch das bisherige System nicht gewährleistet war. 
(Sehr gut! links.) 
Denn die Zerspaltung des deutschen Volkes kam nicht 
aus der Mitte der Bevölkerung, sondern aus der Mitte 
der Regierung heraus. 
(Lebhafte Zustimmung links.) 
Unsere Parteien und unsere Bevölkerungen haben sich hier 
in diesem Raume am 4. August 1914 gut geeinigt, haben 
ihre alten herkömmlichen und zum politischen Gewerbe 
gehörenden Streitigkeirten zunächst einmal zurückgestellt, 
und wenn da und dort noch einmal ein Parteisekretär 
sich vorübergehend vergaß, so wurde er mit dem Worte 
„Burgfrieden“ sanft zur Ordnung gerufen. 
(Heiterkeit.) 
Während aber die Parteien — und alle Parteien in dem 
Hause werden mir darin recht geben —, sich ehrlich be- 
mühten, den Einheitsgeist der deutschen Nation zu 
repräsentieren, begann bereits in den letzten Monaten des 
Jahres 1914 innerhalb der Regierung jene Zwiespältig- 
keit, derer das bisherige System nicht Herr werden 
konnte. Wenn ich einfach sage, die Zwiespältigkeit der 
Auffassungen zwischen Bethmann und Tirpitz, 
(sehr richtig! links) 
so weiß jeder, woher das Zweiparteiensystem in Deutsch- 
land kommt. 
(Sehr richtig! links.) 
Das Zweiparteiensystem in Deutschland ist nicht hier aus 
diesem Hause entstanden. Denn hier in diesem Hause
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.