(A entgegenbringen!
Reichstag. — 193. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918.
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(D. Naumann (Waldeckl, Abgeordneter.)
Was würde das für eine Kraft geben:
ein deutsches Heer, erfüllt von dem unmittelbaren Ver-
trauen: wir und unsere Regierung sind eins! Eine
lebendig arbeitende, der Zukunft entgegenschaffende orga-
nische Masse, das ist es, was der Herr Reichskanzler in
seiner ersten Rede verlangt hat, wenn er sagt: er würde
seine Stellung nicht einnehmen können, wenn er nicht die-
jenige Kraft hinter sich wüßte, die aus dem Vertrauen
der Masse entspringt, die aus jenen unzähligen einzelnen
Seelen herauskommt, von denen jede einzelne klein ist,
und die ein durchschnittliches gleiches Schicksal haben, die
aber addiert das Volk sind, die Nation.
Heute hat der Herr Reichskanzler zu diesem Satz hin-
zugefügt: „die Nation darf nicht blind an den Verhandlungs
tisch geführt werden". Alte Staatsweisheit war, dem Volke
zu sagen: Blind sollt ihr vertrauen, wenn ihr geführt werdet!
Es ist ein neuer Ton, wenn jetzt die Musik bei uns ansetzt
mit dem Einsatz: Nicht blind sollt ihr zum Verhandlungs-
tische geführt werden! Aktivität des Volkes! Die Mehr-
heit, die Menge soll mitschaffen, soll mitreden! — Das
war nicht das Prinzip der bisherigen deutschen Ver-
gangenheit, und keiner unter uns, die wir um die Dinge
des Staates uns bemühen, wird jetzt in diesen Wochen
Tage und Nächte verbringen, ohne im Geiste zu debattieren
mit dem, der der Schöpfer und Aufrichter des bisherigen
Systems gewesen ist, das jetzt unter unseren Händen im
Kriege sich wandelt. Es besteht auf allen Seiten eine
gewisse Debatte mit dem Größten der vorvorigen
Generation. Wir sprechen in unseren Gedanken mit
Bismarck; denn das System, das durch die neue Regierung
beendet wird, ist und war das System, das Bismarck
uns eingerichtet hat, jenes System, das von den Jahren
1866 und 1870 an bis jetzt zum Kriege und bis 1918
gedauert hat, ein System, welches zwar den Rechten des
Volkes nicht von vornherein ablehnend gegenüberstand,
(3) da es ja das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht
für den Reichstag von Anfang an zu seiner Parole
gemacht hatte, aber dieses Wahlrecht so hineinarbeitete
und künstlich einfügte in die Quadern und Mauern vorher
begonnener Bauten, daß daraus ein Regierungssystem
wurde, welches der Vergangenheit gegenüber sicherlich ein
gewaltiger Fortschritt, aber der kommenden Zeit gegen-
über ein zu enges Gehäuse geworden ist. Dieses Bis-
marckische System, von dem die deutsche Regierung heute
unter Führung des Prinzen Max von Baden und unter
Teilnahme der hier sitzenden Mitglieder der Mehrheits-
parteien sich loslöst, war seinerzeit notwendig, um die
Einigung des deutschen Volkes herbeizuführen. Jenes
zerspaltene deutsche Volk mit allen seinen Kleinstaaten,
das Bismarck vorfand, mit seinen vielen Monarchen, mit
seiner unfertigen politischen Ausbildung konnte noch nicht
den Gedanken des Jahres 1848 verwirklichen. Es mußte
erst diktatorisch zusammengefaßt werden, und es war eine
Gnade der Vorsehung, daß der große Diktator für diese
Zusammenfassung uns gegeben wurde. Bismarck schuf für
seine diktatorische Gestalt das dazu passende notwendige
übermenschliche Amt, jenes Amt eines Reichskanzlers, der
verantwortlich ist der Geschichte und der Unendlichkeit
gegenüber, auch der Dynastie gegenüber, der aber dem
Volke gegenüber nichts hat von direkter Abhängigkeit und
Verantwortlichkeit. Mit diesem System haben wir seit
50 Jahren gearbeitet und geschafft —
(uruf rechts)
— ich komme eben auf den Erfolg; ich folge Ihren
Wünschen von selbst! — mit diesem System hat mehr als
eine Generation gearbeitet, und ich wollte eben sagen: es
beweist die Größe des Bismarckischen Griffes, daß in
dieser Periode mit dem gemischten diktatorisch-parlamen—
tarischen System diejenige wirtschaftliche und kulturelle
Entwicklung des deutschen Volkes eintreten konnte, auf die
wir jetzt, im Kriege, mit doppeltem wehmütigen Stolze (0)
zurückblicken, weil vieles zunächst zerbrochen daliegt, was
in dieser Epoche gewonnen und geschaffen wurde. Es
war möglich, durch dieses Bismarckische System dasjenige
Volk herzustellen, das die Kräfte hatte, im großen Kriege
vier Jahre und länger auszuhalten gegen eine ganze
Welt von Feinden. Aber wenn das die historische
Leistung des vergangenen Systems ist, so zeigt es sich
nun im Kriege schärfer als vorher, daß das Bismarckische
Reich eben doch kein voller Staat des Volkes war.
Wenn man das deutsche Volk in seiner Menge braucht
und ruft bis in jedes Bergwerk hinein und bis in jede
Arbeiterhütte und jedes Arbeitergehirn hinein, so muß der
Tropfen demokratischen Ols, von dem Uhland in der
Paulskirche in Frankfurt gesprochen hat, ganz anders
niederrieseln auf unser Volk, damit aus ihm diejenige
Kraft entsteht, aus tiefverletztem Zustand heraus wieder
emporzusteigen und unter den Völkern neu anzufangen.
Die Zeit fordert eine nächstweitere Periode. Warum ist
denn diese nächstweitere Periode nötig? Warum hat das
alte System nicht auch weiterhin verbindliche Kraft?
Weil das bisherige System im Kriege zwei notwendige
große Dinge nicht geleistet hat. Es hat nicht geleistet
die Einheitlichkeit der Regierung, und es hat nicht ge-
leistet die Verkörperung des nationalen Einheits-
gedankens. An diesen zwei starken Mängeln geht es
jetzt zugrunde.
Das System der Bismarckischen Epoche leistete also
nicht die Einheitlichleit der Leitung. Wenn wir früher
in vergangenen Jahren über die Vorzüge der Monarchie
debattiert haben — und ich habe mich reichlich an diesen
Aussprachen beteiligt —, so war es einer der gewöhn-
lichen Gedankengänge: die Monarchie hat gegenüber einem
republikanisch-demokratischen System den Vorteil, daß sie
gerade in Zeiten schwerer Not und äußersten Kampfes
die Einheitlichkeit der Leitung garantiert, während in (D)
republikanischen Staaten die Staatseinheit unter der
Rivalität und Konkurrenz der untereinander streitenden
Staatsmänner und Feldherren verloren geht. Diese
Argumentation ist vielleicht in der Theorie ganz richtig
gewesen. Nun aber kam der wirkliche große Krieg, und
in diesem Kriege zeigte es sich, daß die Einheitlichkeit
durch das bisherige System nicht gewährleistet war.
(Sehr gut! links.)
Denn die Zerspaltung des deutschen Volkes kam nicht
aus der Mitte der Bevölkerung, sondern aus der Mitte
der Regierung heraus.
(Lebhafte Zustimmung links.)
Unsere Parteien und unsere Bevölkerungen haben sich hier
in diesem Raume am 4. August 1914 gut geeinigt, haben
ihre alten herkömmlichen und zum politischen Gewerbe
gehörenden Streitigkeirten zunächst einmal zurückgestellt,
und wenn da und dort noch einmal ein Parteisekretär
sich vorübergehend vergaß, so wurde er mit dem Worte
„Burgfrieden“ sanft zur Ordnung gerufen.
(Heiterkeit.)
Während aber die Parteien — und alle Parteien in dem
Hause werden mir darin recht geben —, sich ehrlich be-
mühten, den Einheitsgeist der deutschen Nation zu
repräsentieren, begann bereits in den letzten Monaten des
Jahres 1914 innerhalb der Regierung jene Zwiespältig-
keit, derer das bisherige System nicht Herr werden
konnte. Wenn ich einfach sage, die Zwiespältigkeit der
Auffassungen zwischen Bethmann und Tirpitz,
(sehr richtig! links)
so weiß jeder, woher das Zweiparteiensystem in Deutsch-
land kommt.
(Sehr richtig! links.)
Das Zweiparteiensystem in Deutschland ist nicht hier aus
diesem Hause entstanden. Denn hier in diesem Hause