Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

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Reichstag. — 193. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918. 
  
  
(D. Naumann (Waldeckl, Abgeordneter.) 
(A jede verständige Uberlegung zeigt, daß wir die Möglich- 
keiten des Auflebens des neuen Handelns, der neuen 
Entwicklung und des neuen Austausches nur dann erhalten, 
wenn der Krieg endet mit einer großen Amnestie um die 
Erdkugel herum, — 
(sehr gut! links) 
wenn eine große weltbefreiende Gesinnung von uns mit- 
aufgebaut wird. Und indem wir Deutschen das anstreben, 
tun wir kein fremdes Werk. 
(Zustimmung.) 
Denn wo stammt der Gedanke der Menschheitsentwicklung 
zuerst her? Der ist nicht zuerst von Lloyd George und 
von Wilson erfunden. 
(Sehr richtig!) 
Er ist viel älter und am tiesfsten durchdacht in Lessings 
„Erziehung des Menschengeschlechts“", in Kants „Vom 
ewigen Frieden“, in der ganzen glänzenden Reihe der 
großen deutschen Denker bis hin zu Hegel: die Entwicklung 
aus dem Kleinen zum Großen, aus dem Ungeformten zu 
Geformtem, aus dem Unfertigen zur Weltorganisation. 
Es war der Gedanke, in dem das Geschlecht unserer 
Großväter sein Ideal gefunden hat. Manches davon ist 
durch den Zwang der dazwischen gelegenen Periode für 
uns etwas getrübt worden. Wir werden aber zum Teil 
wieder zu den Füßen unserer Großväter sitzen müssen, 
um bei ihnen von den Quellen der Weisheit zu lernen, 
wie wir und die Menschheit gesund werden können nach 
dieser ungeheuren Zerstörung. Und wenn der Pessi- 
mismus glaubt, das deutsche Volk sei nun, weil wir jetzt 
einmal Niederlagen nach vielen Siegen durchmachen, da- 
durch schon allzu sehr geknickt und zerbrochen — o neinl 
bin mit all den Vorrednern darin vollständig einig 
und hoffe, wir alle sind es und sagen es unserem ganzen 
Volke: eine Nation, die der Welt gegenüber vier Jahre 
so ausgehalten hat, 
(B) (sehr richtig!) 
eine Nation, die in sich solche Kräfte des Arbeitens, 
Denkens und Schaffens besitzt, die ist nicht tot zu machen, 
(lebhaftes Bravo) 
weder von denen, die in Europa sind, noch von denen, 
die jenseits des Ozeans sind. Sie sollen es versuchen; 
es geht nicht! Aber mit uns in Frieden zu leben, das 
geht, wenn sie nur wollen. 
(Stürmisches Bravo links.) 
Vizepräsident Dove: Das Wort hat der Herr Ab- 
geordnete Dr. Stresemann. 
Dr. Stressemann, Abgeordneter: Meine Herren! 
Die Welt steht noch unter dem Eindruck des Friedens- 
schrittes der deutschen Regierung. Dieser Friedensschritt 
wird von meinen Freunden gebilligt. Er ist das Ergebnis 
der weltpolitischen Lage, der wir klar ins Auge schauen 
wollen. Mit dem militärischen und politischen Zusammen- 
bruch Bulgariens schied ein militärisch äußerst wichtiger 
Faktor des Vierbundes aus. Die Rückwirkungen dieses 
Zusammenbruchs sehen wir in dem verstärkten Anstürmen 
auf unsere Front im Westen. Wenn jemals Liebe und 
Bewunderung der Heimat Begleiter unserer Heere gewesen 
sind, so sind sie es jetzt, da unsere Truppen noch immer 
auf feindlichem Boden die deutsche Heimat verteidigen. 
Die griechische Geschichtsschreibung hat einst dem für 
seine Heimat kämpfenden Hektor die Erinnerung der Welt 
bewahrt. Wenn einmal der Haß der Völker leidenschafts- 
loser Betrachtung gewichen ist, dann wird das, was die 
deutschen Heere in diesem Weltkriege geleistet haben, als 
die höchste Kraftentfaltung eines Volkes in seinem 
Daseinskampfe anerkannt werden. 
(Sehr richtig! links.) 
Deshalb konnte unsere Regierung ungebeugten Hauptes 
das Ersuchen um den Waffenstillstand aussprechen, und 
  
wenn unsere Truppen dann, wenn uns der Friede einst (0) 
beschieden sein sollte, die deutsche Fahne in die Heimat 
zurückbringen, so wird sie von leuchtendem Glanz um- 
geben sein, 
(Beifall links) 
darüber wird bei unserem Heere, darüber in unserer Heimat 
— und — des sind wir gewiß — auch einst in der 
Geschichte kein Zweifel bestehen. 
(Lebhafter Beifall links.) 
Das auszusprechen halten wir für unsere Pflicht gerade 
in einer Zeit, in der unser Heer, ohne siegen zu können, 
vielleicht das höchste leistet, was es jemals in diesem 
Weltkriege geleistet hat. 
(Bravol links.) 
Deshalb sind wir auch dem Herrn Reichskanzler dafür 
dankbar, daß er den Angriffen entgegengetreten ist, die 
gegen den Charakter unseres Heeres gerichtet worden sind, 
sind ihm dankbar dafür, daß er zum Ausdruck gebracht hat: 
wer unser Heer angreift, greift unser deutsches Volk an. 
(Lebhafte Zustimmung links.) 
Mag man draußen von dem Begriff des deutschen 
Militarismus gesprochen haben in dem Sinne, wie er in 
diesem Hause oft kritisiert worden ist, — an der einen 
Tatsache kann die Welt nicht vorbei, nämlich, daß das 
deutsche Heer ein Volksheer ist und weit eher ein Volks- 
heer war, ehe sich andere Völker unter dem Eindruck 
dieses Krieges zum Gedanken des Volksheeres unter 
unserem Beispiel durchgerungen haben. 
(Sehr richtig! links.) 
Wir dürfen wohl das eine auch hier aussprechen: nicht 
nur unserem Heere ist der Gedanke fremd, zu den Greueln 
dieses Krieges zu den Greueln, die jeder Krieg in sich 
birgt, durch Mutwillen neue hinzuzufügen, sondern auch 
der Gedanke, daß überhaupt in diesem furchtbaren Völker- 
ringen jetzt, wo die Völker den Frieden haben können, 
noch mehr Blut vergossen wird, als bisher vergossen 
wurde, — der Gedanke ist für alle Gemüter ein schwer 
erträglicher. Aber die Entscheidung darüber, ob den 
Völkern diese Blutopfer erspart werden, die Entscheidung 
darüber, ob noch weiter Städte und Dörfer in Rauch und 
Trümmer aufgehen und Hunderttausende nackt und bloß 
und ohne Heimat den Wanderstab nehmen sollen und 
auswandern aus dem, was ihre Heimat war, die Ent- 
scheidung darüber liegt in der Hand des Präsidenten der 
Vereinigten Staaten von Amerika. 
(Sehr richtig! links.) 
Er hat vor seinem Gewissen die Frage zu verantworten, 
ob er es gegenüber der Welt tragen kann, eine Ent- 
scheidung in dem Sinne zu fällen, daß selbst nach An- 
nahme seiner Grundbedingungen nicht der Friede auf der 
Grundlage der von ihm selbst einst ausgesprochenen 
Grundsätze den Völkern gegeben werden kann. 
(Sehr richtig! links.) 
Wir können jedenfalls nach alledem, was wir haben 
anerkennen müssen in den Handlungen unserer Regierung 
in den letzten Wochen, das eine sagen: das Blut, das 
noch weiter vergossen wird, kommt nicht auf unser Haupt. 
(Lebhafte Zustimmung links.) 
Meine Herren, wir stehen weltpolitisch vereinsamt da. 
Das zeigen uns die Ereignisse der letzten Woche. Hier 
und da ist in der Offentlichkeit von einem Verrat des 
bulgarischen Bolkes gesprochen worden. Eine derartige 
Auffassung möchte ich mir nicht zu eigen machen. Ich 
halte sie auch für vollkommen falsch gegenüber der Zu- 
kunft, die wir anstreben müssen. IJuwieweit wir selbst 
die Schuld daran tragen, daß die deutschfreundlichen 
Parteien in Bulgarien sich nicht halten konnten, darüber 
wird einst die Geschichte urteilen, wenn man die Geschichte 
des Friedens von Bukarest schreibt. Dem militärischen 
Niederbruch Bulgariens folgte natürlich der Niederbruch
	        
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