Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

Reichstag. — 193. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918. 
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(Dr. Stresemann, Abgeordneter.) 
(A) derer, die zu uns hielten. Wir aber wissen das eine, daß 
(B 
tiefe kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen Bulgarien 
und Deutschland verbinden und geben die Hoffnung nicht 
auf, daß das gemeinschaftliche Zusammenleben in der 
Kriegszeit auch für die Zukunft uns die Wiederanknüpfung 
deutsch-bulgarischer Beziehungen ermöglichen wird. 
(BravdI! links.) 
Meine Herren, wir sehen auf der anderen Seite bei 
unseren Bundesgenossen, wie das ungebändigte Streben 
der Völker nach Selbständigkeit die alten Formen 
Osterreich-Ungarns sprengt. Und noch ist dieser Prozeß 
nicht abgeschlossen. Aber wir wissen das eine: daß 
Deutsch-Osterreich stets der Hort besten deutschen 
Empfindens war und der Hort besten deutschen Empfindens 
sein wird. 
(Sehr richtig! — Bravol links.) 
Wir denken daran, daß einmal ein alter Kämpe der 
Fortschrittspartei, Albert Träger, im Jahre 1884 den 
Deutsch-Osterreichern den Gruß zugerufen hat: und was 
einmal zusammengehört, das kann kein Grenzpfahl scheiden. 
Die Einheit des deutschen Empfindens hat sich gerade in 
dieser Zeit in Deutsch-Osterreich neu bewährt, wo von 
den Christlich-Sozialen bis zu den deutschen Sozial- 
demokraten im dortigen Parlament der Gedanke der 
völkischen Zusammengehörigkeit diejenigen eint, die bisher 
mehr auseinandergerissen waren, als es vielleicht bei uns 
der Fall war. Wenn die Welt sich neu formt unter dem 
Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Völker, dann 
wird Deutschland mit Deutsch-Osterreich stets Schulter an 
Schulter stehen. In all dem Dunkel dieser Tage wollen 
wir diesen Lichtblick in die Zukunft nicht übersehen. 
(Bravol bei den Nationalliberalen.) 
Meine Herren, ich muß mit einem Wort auch noch 
auf eine andere Frage zu sprechen kommen, weil sie, 
glaube ich, durch Ausführungen unserer deutschen Presse 
eine ganz falsche Beleuchtung bekommen hat. Wir haben 
in der deutschen Presse in den letzten Tagen lesen 
können, daß Graf Tisza das Bündnis mit Deutschland 
gekündigt und sich von ihm losgesagt hätte. Das ist eine 
ganz falsche Auffassung der Außerung, die Tisza im un- 
garischen Reichstag getan hat. Graf Tisza hat lediglich 
die Folgerung daraus gezogen, daß mit Annahme der 
Wilsonschen 14 Punkte, mit dem Inslebentreten eines 
Völkerbundes Einzelbündnisse als solche überhaupt nicht 
mehr in Betracht kommen, und deshalb auch naturgemäß 
ein deutsch-ungarisches Bündnis logisch nicht mehr mög- 
lich ist 
(Sehr richtig! links) 
Die Konstatierung dieser Tatsache unserem Volke als Los- 
lösung des Grafen Tisza vom deutschen Bündnis zu be- 
zeichnen, ist eine schiefe und kränkende Darstellung. 
(Sehr richtig! links.) 
Derselbe Graf Tisza, von dem man das sprach, hat 
gerade in dieser letzten Zeit zum Ausdruck gebracht, daß 
Ungarn niemals eine Handlung begehen würde, die als 
Treulosigkeit gegenüber Deutschland gedeutet werden 
könnte. Wir danken ihm für dieses Wort, das dem Geist 
der ritterlichen ungarischen Nation entspricht, und wir 
teilen mit ihm die Hoffnung auf ein Fortbestehen der 
engen Beziehungen zwischen Ungarn und Deutschland auch 
dann, wenn die neue Staatlichkeit Ungarns entsteht, die 
vielleicht sogar dazu führen wird, diese Beziehungen noch 
enger gestalten zu können, als es bisher der Fall war. 
Meine Herren, unsere heutige Lage erweckt im Volke 
die Frage, ob diese Situation denn t4 plötzlich kommen 
konnte, und es besteht vielfach die Auffassung, als hätte 
der Reichstag den Ernst der Situation gegenüber der 
Offentlichkeit verschwiegen. Diese Auffassung ist falsch, 
(sehr richtig! links) 
ebenso falsch wie die andere von manchen Seiten ver- 
  
  
breitete, als wenn der Friedensschritt der Regierung die (O) 
Folge der Heranziehung demokratischer und sozialdemo- 
kratischer Elemente zur Regierung wäre. 
(Sehr richtig! links.) 
Meine Herren, wenn ich an einer Stelle lese: die Re- 
gierung habe damit begonnen, die militärische Lage, statt 
sie zu festigen, durch ihr Angebot an den Feind noch 
mehr zu erschweren und den Geist der Truppen durch die 
Lockungen eines neuen Waffenstillstandes und Friedens 
noch mehr zu erweichen und zu erschlaffen, 
Zuruf) 
und wenn weiter gesagt ist und zwar noch am 18. Oktober 
dieses Jahres, daß auch der Blindeste ja sehe, daß die 
Oberste Heeresleitung in ihren Entschlüssen bei der 
Zustimmung zu den Taten der Regierung nicht frei 
gewesen sei, 
(hört! hört! links) 
und daraus die Folgerung gezogen wird: sich hinter die 
Regierung zu stellen, heißt das Vaterland verkaufen und 
verraten, meine Herren, dann habe ich für die Verant- 
wortungslosigkeit, mit der jemand, der die Verhältnisse 
nicht kennt, dies niederschreibt, und für die Stirn, mit der 
jemand dies niederschreibt, der die Verhältnisse kennt, 
keinen parlamentarischen Ausdruck. 
(Sehr richtig! links. — Zurufe.) 
Es handelt sich um einen Aufsatz in der „Unabhängigen 
nationalen Korrespondenz“ von Professor Haupt in 
Stuttgart. 
(Zurufe.) 
Meine Herren, wir alle sind seit dem Tage des bul- 
garischen Zusammenbruchs jäh und plötzlich über den 
Ernst der Situation unterrichtet worden. Es liegt nahe, 
diese heutige Lage gegen diejenigen auszuspielen, die Ver- 
treter einer optimistischen Auffassung waren. Ich begnüge 
mich darauf, auf die Tatsache hinzuweisen, daß nach der 
Beseitigung der Ostfront, den großen Erfolgen im Westen 
im Frühjahre, die Hoffnung auf den militärischen Sieg 
Deutschlands eine durchaus berechtigte war. 
(Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.) 
Wir gehören zu denen, die an den deutschen Sieg geglaubt 
haben, und wir schämen uns dessen nicht. 
(Lebhaftes Bravo bei den Nationalliberalen.) 
Wenn es ein Verbrechen war, dieses feste Vertrauen auf 
den deutschen Sieg, so teilen wir dieses Verbrechen mit 
Millionen Deutschen aus allen Parteien dieses Hauses 
und aus dem ganzen Volke. 
Der Herr Kollege Naumann hat vielfach den Blick 
zurückschweifen lassen in die deutsche Geschichte. Noch in 
Tilsit, der letzten Stadt auf preußischem Boden, erwiderte 
die damalige Königin von Preußen dem Herrscher der 
Franzosen, der sie fragte, wie sich Preußen über seine 
Kräfte so hätte täuschen können: „Sire, dem Ruhme 
Friedrichs des Großen war es erlaubt, sich über 
unsere Kräfte zu täuschen. Wir können ebenso, ohne in 
die Vergangenheit zurückzugreifen, sagen: dem Ruhme 
dessen, was unser Heer in diesem Weltkriege geleistet hat, 
war es erlaubt, uns über unsere Kräfte zu täuschen. Uns 
war es mindestens erlaubt, die wir diesen großen Sieges- 
gang unseres Heeres von außen vor Augen sahen. Unsere 
Kriegsziele sind nicht erfüllt; billiger Spott kann von 
einer Bekehrung in dieser Frage sprechen. Mir erscheint 
diese Stunde viel zu ernst, um in der Form von Zettel- 
kastenweisheit daran zu erinnern, wieviele andere Aus- 
sprüche aus fast allen Parteien den unserigen glichen. 
Ich begnüge mich mit dem Bibelwort: wer unter euch in 
dieser Beziehung ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein 
auf uns. Es werden nicht viele Steinwerfer vor- 
handen sein. 
(Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.) 
Im übrigen darf ich auf eines hinweisen, daß, als 
849 
— 
D)
	        
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