Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

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Reichstag. — 194. Sitzung. Mittwoch den 23. Oktober 1918. 
  
(Haase [Königsberg], Abgeordneter.) 
/A) Herren, die Ihnen viel näher stehen als uns, Herren von 
der bürgerlichen Seite, bestätigen mir soeben, daß alles 
richtig ist, was ich sage. 
(Erneute Zurufe rechts.) 
— Ja, die Ihnen näherstehen, die früher Ihre Freunde 
waren und in Zukunft es vielleicht wieder sein werden. 
Uns genügt natürlich nicht im entferntesten das, was jetzt 
auf dem Gebiete der inneren Umformung versucht wird, 
ist doch nur elendes Flickwerk. Auf dem Gebiete des 
Belagerungszustandes ist nichts gebessert. In den bureau- 
kratisch-militärischen Apparat sind einige neue Glieder 
eingeschoben, die das Verfahren noch langsamer und 
schwerfälliger machen. Welche Garantie für Freiheit ist 
dadurch gegeben, daß die kommandierenden Generale in 
ihren Entscheidungen an die Zustimmung des Ober- 
präsidenten gebunden sind? Niemand kann im Ernst 
behaupten, daß die Oberpräsidenten freiheitlichere Auf- 
fassungen als die kommandierenden Generale haben. 
(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Sind sie doch Geist von ihrem Geist, sind sie doch von 
demselben Geist der Vaterlandspartei erfüllt wie die kom- 
mandierenden Generale. Es klingt geradezu wie eine 
Verhöhnung des Volkes, wenn ihm zugemutet wird, in 
diesem Erlaß der neuen Regierung zur Milderung des 
Belagerungszustandes eine Reform zu erblicken. Freilich, 
der Verletzte kann sich ja beschweren. Aber bis die Be- 
schwerde durch den Kriegsminister und seinen Adlatus 
erledigt ist, schmachtet der Internierte im Gefängnis, ist 
der Versammlungszweck vereitelt, das freie aufklärende 
Wort unterdrückt, selbst wenn die Beschwerde Erfolg hat. 
Der Herr Reichskanzler hat gestern erklärt, es sei dafür 
gesorgt, daß der Belagerungszustand in dem Geiste gehand- 
habt werde, in dem er die Leitung der Reichsgeschäfte 
übernommen habe. 
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
(8) Zu diesem Geiste haben wir aus den triftigsten Gründen 
kein Qertrauen. 
(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Das Mißtrauen ist allein schon dadurch begründet, 
daß wir, seitdem die neue Regierung am Ruder ist, auf 
dem Gebiete des Vereins= und Versammlungsrechts reichlich 
Erfahrungen zu sammeln Gelegenheit hatten, die unser 
Mißtrauen stärken. 
(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Der Aufruf meiner Fraktion und Partei, der dem werk- 
tätigen Volke die politische Situation und unser Ziel 
klarlegte, wurde von der Zensurbehörde unterdrückt, jede 
Besprechung in der Presse verboten. 
(Hört! hörtl bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Verschiedenen Zeitungen, die den Aufruf veröffentlichten, 
wurde das Erscheinen für mehrere Tage untersagt. 
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Dem „Volksblatt für Halle“ wurde nicht einmal nach 
Ablauf von drei Tagen, wie es der alte Hertlingsche 
Erlaß vorgesehen hatte, das Erscheinen gestattet. 
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Der Verlag wurde nach berüchtigtem Muster gepeinigt, 
Garantien für künftiges Wohlverhalten zu geben, d. h., 
das Blatt Redakteuren mit anderer Gesinnung in die 
Hand zu spielen. 
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Die „Breslauer Volkswacht“, eine regierungssozialistische 
Zeitung, wurde für drei Tage verboten, weil sie die 
Abschaffung der Dynastie für erforderlich erklärt hat. 
Am 11. Oktober wurde eine Wählerversammlung des 
ersten Berliner Kreises aufgelöst, als ich nach Anführung 
bestimmter Zensurmaßnahmen erklärte: „So weht uns 
auch in den letzten Tagen wieder der alte reaktionäre 
Wind entgegen.“ 
([achen bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
  
Am 11. Oktober hat der Polizeipräsident in Berlin eine (C) 
öffentliche Frauenversammlung nicht zugelassen, weil sie 
nicht unter die Ausnahmebestimmungen des Oberkommandos 
in den Marken falle, — eine wirklich köstliche Begründung. 
Das Verbot der öffentlichen Versammlungen ist also noch 
immer die Regel. Nur in Ausnahmefällen wird der 
Verbotsgrundsatz durchbrochen. Auch bloße Mitglieder- 
versammlungen werden nach wie vor verboten, so eine 
Mitgliederversammlung des fünften Berliner Wahlkreises, 
ört! hört! bet den Unabhängigen Sozialdemokraten) 
in der am 17. Oktober der Reichstagsabgeordnete Büchner 
über die politische Lage sprechen wollte. 
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Desgleichen ist der Zentralstelle für Völkerrecht nicht die 
Genehmigung gegeben worden, eine Generalversammlung 
abzuhalten. In fast allen Teilen des Reichs geht es 
genau so zu wie in Berlin. Wie früher wird auch jetzt 
noch, wenn schon eine Versammlung genehmigt wird, die 
Einreichung eines Manustripts gefordert. Dieses ent- 
mündigende Verlangen ist lächerlich in einer Zeit, in der 
sich die Ereignisse überstürzen und sich von der Ein- 
reichung des Manuskripts bis zum Tage der Rede eine 
völlig veränderte Situation herausstellen kann. 
(Sehr wahr! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Noch immer bestehen Redeverbote gegen Dutzende von 
Personen, darunter Reichstagsabgeordnete. Noch immer 
ist einzelnen Mitgliedern unserer Partei jede Art politi- 
scher Tätigkeit untersagt. 
Meine Herren, wir haben am 14. Oktober dem Herrn 
Reichskanzler eine größere Anzahl dieser Fälle mitgeteilt 
und ihn ersucht, auf die Aufhebung dieser Maßregel hin- 
zuwirken. Was ist geschehen? Am 20. Oktober Gabt ich 
von dem Herrn Staatssekretär Gröber ganz nach altem 
Schema die Mitteilung erhalten, daß mein Schreiben dem 
Herrn Ober-Militärbefehlshaber zur weiteren. Veranlassung 
übergeben worden ist. 
(Lachen bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Allerdings wird noch ein guter Rat hinzugefügt, nämlich 
der Rat, daß jeder, der vom Redeverbot getroffen 
ist, bei seinem zuständigen Generalkommando vorstellig 
werden sollte. Eine solche Verkennung der inneren politi- 
schen Situation ist überraschend. Den empfohlenen Weg, 
an die Generalkommandos zu gehen, kennen wir selbst, 
und viele einzelne haben ihn schon vergeblich beschritten. 
Worauf es ankommt, ist etwas ganz anderes. Eine 
Regierung, die auch nur einen Hauch des modernen 
Geistes spürt, müßte von selbst, und wenn nicht von 
selbst, nach Anstoß von außen dafür sorgen, daß durch 
eine allgemeine Verfügung die schikanösen Bestimmungen 
der Zensur und die Redeverbote beseitigt werden. 
(Sehr wahr! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Manche Maßregeln sind noch rigoroser als früher. 
So hat man jetzt dem Angestellten des Bauarbeiter- 
verbandes in Chemnitz namens Brandler, einem öster- 
reichisch-ungarischen Staatsangehörigen, der während der 
ganzen Kriegsdauer ungestört politisch tätig war, einen 
Ausweisbefehl mit drei Tagen Frist zugestellt. 
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Er ist Familienvater und hatte abzurechnen mit seiner 
Kasse. Dennoch wurde zunächst auf dieser dreitägigen 
Frist bestanden, und es ist ihm die Erlaubnis, nach der 
Schweiz zu gehen, wo er bei den Gewerkschaften eine 
Stellung finden konnte, verwehrt worden. 
Die Zensur ist vielfach * als vordem. Ich 
werde auf den Tisch des Hauses einen Artikel nieder- 
legen, der in der Sozialistischen Auslandskorrespondenz 
erscheinen sollte. Die Zenfur hat ihn vollständig gestrichen. 
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Ich bin überzeugt, daß fast jedes Mitglied dieses Hauses, 
welcher Partei es auch angehöre, zugeben wird, daß eine 
  
  
OG)
	        
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