Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

Reichstag. — 194. Sitzung. Mittwoch den 23. Oktober 1918. 
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(aase [Königsberg!, Abgeordneter.) 
(A Vergewaltigung der freien Meinungsäußerung vorliegt, 
(8) 
wie sie selten vorkommt. » 
Die Vorzensur, die nach dem Worte eines früheren 
Staatssekretärs in Deutschland ja ganz unbekannt sein 
sollte, besteht auch unter dem neuen Regime noch. 
Daß „Berliner Mitteilungsblatt“ hat jetzt wieder den Antrag 
gestellt, die Vorzenfur aufzuheben. Unter dem 10. Ok- 
tober ist ohne Angabe von Gründen dieser Antrag 
abgelehnt worden. 
(Hört! hörtl bei den Unabhängigen Sozialdemokraten 
Dieselbe Zeitung darf ebenso wie die „Leipziger Volks- 
zeitung“ immer noch nicht durch den Verlag in das 
neutrale Ausland und in die okkupierten Gebiete versandt 
werden. Ganz unfaßbar ist, wie man es wagt, hervor- 
ragende Schrtftsteller, so Franz Mehring und Carl Kautsky, 
die im Ausland allgemein das größte Ansehen genießen, 
zu behandeln. 
Franz Mehring hat ein 32 Bogen starkes Buch über 
Karl Marx verfaßt, in dem die Zensur auch nicht ein 
einziges Wort gestrichen hat, nachdem sie es fünf Monate 
lang geprüft hat. Über dieses Werk, nach dem im neu- 
tralen Auslande große Nachfrage herrscht, ist aber ein 
Ausfuhrverbot verhängt, 
(hört! hört! bei den LInabhängigen Sozialdemokraten) 
und was nun das erstaunlichste ist, die neue Regierung 
hat dieses Ausfuhrverbot bestätigt. 
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Die Begründung ist so charakteristisch, daß ich sie der 
Offentlichkeit nicht vorenthalten kann. Unterschrieben von 
dem Unterstaatssekretär Lewald unter dem Datum des 
7. Oktobers lautet sie: 
Ich bin zu meinem Bedauern nicht in der Lage, 
auf die zuständige militärische Stelle im Sinne 
einer Aufhebung des über Ihre Schrift „Karl 
Marx“ verhängten Ausfuhrverbotes einzuwirken. 
Das Werk hat zwar wissenschaftlichen Charakter 
und beschäftigt sich nicht mit der gegenwärtigen 
Zeit, dennoch besteht die Gefahr, daß historisch 
nicht geschulte Leser die in dem Werke über die 
Vorgänge aus dem deutsch-französischen Kriege 
emachten Angaben auf die gegenwärtige Zeit 
übertragen werden, 
hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
und daß insbesondere im feindlichen Auslande 
die unter Hinweis auf die damaligen Verhältnisse 
von Marx gemachten Ausführungen für die 
Gegenwart als Kampfmittel benutzt werden. Dies 
könnte aber für Deutschland schädigend wirken. 
Die Ausfuhr des Buches nach dem Ausland kann 
aus diesem Grunde nicht gestattet werden. 
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Wissenschaftliche Interessen des einzelnen müssen 
hinter denen der Allgemeinheit zurücktreten. 
Meine Herren, die Regierung hat in ihrem Gesichts- 
kreise nur wirtschaftliche Interessen. Daß es noch höhere, 
ideelle Interessen gibt, kommt ihr gar nicht in den Sinn. 
Der alte Zopf hängt Herrn Lewald noch immer hinten. 
Die Aussprüche von Karl Marx, die dieser in genialer 
Beurteilung des Frankfurter Friedens getan hat, kennt 
jeder politisch Gebildete im In= und Auslande. Es 
kann, wenn das Werk ins Ausland kommt, dem Auslande 
in diesem Punkt gar nichts Neues geboten werden. Das 
Werk hat seine Bedeutung nicht durch die Wiedergabe 
jener Stellen, sondern durch die historische Würdigung des 
Karl Marx. Aber die neue Regierung kann sich die Be- 
vormundung der Welt nicht ersparen, sie geht den alten 
Weg weiter. 
Karl Kanutsky, um ein anderes Beispiel herauszu- 
gheesfen, hat ein Buch verfaßt: „Sozialdemokratische 
emerkungen zur Übergangswirtschaft“. Es ist am 1 
(hört! 
  
22. Juli bei der Zensurbehörde in Leipzig eingereicht worden. (O) 
Am 21. August etelt der Verlag — hören Siel — Titelblatt, 
Inhaltsverzeichnis und Vorwort als vorläufig gemepimigt 
zurück, der Text wurde zurückbehalten. Bis heute ist für 
den Text des Werkes die Genehmigung nicht zu erlangen 
gewesen. Jetzt unter dem neuen Regime am 7. Oktober 
hat die Presseabteilung des Stellvertretenden General- 
kommandos auf Erinnerung des Verlages mitgeteilt, daß 
sie den mitbeteiligten Behörden zur Erledigung weiter- 
gegeben sei. Wer die mitbeteiligten Behörden sind, erfährt 
der Verlag nicht. So sieht die Behandlung eines Mannes 
der Wissenschaft aus; es ist nicht zu viel gesagt, wenn 
ich sie als skandalös bezeichne. 
(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Es liegt auf der Hand, daß mit der Zeit gewisse Partien 
dieses Buches veralten und jetzt schon veraltet sein müssen, 
daß das Werk an Aktuellität verliert, wenn es erst nach 
Monaten die Genehmigung erhält. 
Noch auf etwas anderes möchte ich Ihre Aufmerk- 
samkeit lenken. In dieser Zeit ist es dringendes Be- 
dürfnis, daß jeder, der der Gesamtheit etwas zu sagen 
hat, zu Gehör kommt. Die Schranken gegen die Heraus- 
gabe neuer Zeitungen müssen fallen. Sämtliche Partei- 
richtungen müssen die Möglichkeit haben, durch die Presse 
ihre Anschauungen zu vertreten. Nachdem durch das be- 
kannte Vorgehen des Oberkommandos in den Marken 
unserer Partei der „Vorwärts“ entrissen wurde, haben die 
Herren Ledebour und Hoffmann in Gemeinschaft mit mir 
den Antrag gestellt, uns die Herausgabe einer neuen 
Zeitung zu gestatten. Das Gesuch wurde damals ab- 
gelehnt. Jetzt haben wir es beim Reichskanzler wieder- 
holt. Nach der alten Methode haben wir den Bescheid 
erhalten, daß die Angelegenheit der zuständigen Stelle 
übergeben worden sei. Merkt der Herr Reichskanzler 
nicht, daß es seine Aufgabe ist, durch allgemeine An- 
weisungen den bestehenden unhaltbaren Zustand zu be- 
seitigen, und daß es nicht genügt, wenn er Beschwerden, die 
ihm eingereicht werden, an die zuständigen Stellen abgibt, 
damit nach Wochen oder Monaten ein Bescheid kommt? 
An verschiedenen Orten ist sogar noch jetzt der verschärfte 
Belagerungszustand aufrechterhalten. In Königsberg 
hat der Magistrat mit dem Mitbegründer der Vater- 
landspartei, Oberbürgermeister Körte an der Spitze, ebenso 
die Stadtverordnetenvers ammlung einstimmig die Aufhebung 
des bestehenden verschärften Kriegszustandes gefordert 
und dargelegt, daß nicht der geringste Grund für den 
verschärften Kriegszustand vorhanden sei. Ich habe dem 
neuen Reichskanzler von dieser Tatsache sofort Mitteilung 
gemacht und ihn darauf hingewiesen, daß in Königsberg 
noch die außerordentlichen Kriegsgerichte fungieren. Bis 
jetzt habe ich nicht erfahren, daß eine Anderung einge- 
getreten ist. 
Auch die Briefzenfur, nicht nur die offene, sondern 
auch die geheime, steht noch in voller Blüte, obwohl sie 
selbst nac dem gegenwärtigen Belagerungszustandgesetz 
unzulässig ist und der Verfassung widerstreitet. 
Zu welchen Folgen diese geheime Briefzensur führt, 
dafür will ich Ihnen nur ein Beispiel geben. In Düssel- 
dorf hat eine Frau Agnes, nachdem ihr Mann zum Militär 
eingezogen ist, wo er jetzt als Sergeant dient, alles ver- 
sucht, um sein Geschäft — er ist Schneidermeister — auf- 
rechtzuerhalten und hat ihre Kinder geradezu vorbildlich 
erzogen. Was sie nicht ahnte, ist die Tatsache, daß die 
Düsseldorfer Polizei sämtliche Briefe ihres Mannes, auch 
die Briefe familiärsten Charakters, öffnete, nach Entnahme 
von Abschriften im geheimen wieder schloß, ohne daß die 
Frau die Offnung merken konnte, und sie dann erst durch 
die Post der Frau zutragen ließ. 
(Erregte Zurufe bei den Unabhängigen Sozial- 
demokraten.) 
— 
D)
	        
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