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Reichstag. — 194. Sitzung. Mittwoch den 23. Oktober 1918.
(Haase [Königsberg!, Abgeordneter.)
(A) Wegen einer Außerung, die der Mann in einem Briefe
tat, wurde er verhaftet, aber von den Militärbehörden
nach 7 Wochen entlassen und wieder an die Front ge-
schickt. Die Frau, die für die Außerung ihres Mannes
als Gesinnungsverwandte verantwortlich gemacht wurde,
wurde 6 Monate in Schutzhaft gehalten,
(erneute erregte Zurufe bei den Unabhängigen
Sozialdemokraten)
von ihren Kindern weggerissen.
Das sind die Wirkungen des alten Zustandes ge-
wesen. Viele, viele ähnliche Fälle könnte ich Ihnen vor-
lesen. Geschämt habe ich mich, als ich vor dem Reichs-
militärgericht in der Beschwerdeinstanz von dem Vertreter
der Düsseldorfer Polizei kaltblütig hörte, daß er seit
Jahren nicht nur die Briefe, die bei den Akten in Ab-
schrift waren, sondern auch noch andere Briefe dieses
Mannes, und wahrscheinlich auch die Antworten seiner
Frau gelesen und abgeschrieben hat. Und das soll noch
einen Augenblick unter einem neuen Regime bestehen,
das sich die Allüren eines demokratischen Regimes gibt!
Die sozialdemokratische Partei hatte ja feierlich ge-
schworen, daß sie in die Regierung nur eintreten würde,
wenn ihre Mindestforderungen angenommen würden.
Schon diese Mindestforderungen waren ein Muster politi-
scher Bescheidenheit, selbst für bürgerliche Parteien. In
dem Regierungsprogramm aber, das im Namen sämtlicher
Mehrheitsparteien der Herr Reichskanzler hier verlesen
hat hat sich selbst dieses Mindestprogramm bis zur Un-
enntlichkeit verflüchtigt. Es wird in der politischen Ge-
schichte unseres Volkes, wie besonders im Gedächtnis der
Arbeiterklasse, fortdauern, daß Mitglieder der sozialdemo-
kratischen Partei in eine Regierung auf Grund des Programms
eingetreten sind, das der Herr Reichskanzler verkündet hat.
Noch immer sind Tausende Arbeiter lediglich aus
politischen Gründen im Heere auf Veranlassung der Ge-
(BM neralkommandos, ganz gleich, ob sie militärtauglich sind
oder nicht. Eine große Freude hat freilich die Heeres-
verwaltung an den so gewaltsam gemachten Soldaten
nicht erlebt. Sie aber zu entlassen, ist ein Gebot der
Gerechtigkeit. Erstaunt bin ich nun gewesen, daß diese
Methode der politischen Maßregelung auch unter dem
neuen Regime vorwärts geht.
(Hörtl hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
In den letzten Tagen ist einem Unternehmer, der
politisch nicht organisiert und politisch nicht tätig ist, der
aber einen Bruder hat, der Mitglied unserer Partei ist,
und der in dem Hause dieses Bruders gesellschaftlich mit
Herrn und Frau v. Beerfelde zusammengekommen ist,
plötzlich eine Kriegsorder zugestellt worden. Dieser Mann
war bis zum 15. Januar 1919 reklamiert, weil er zirka
400 Arbeiter beschäftigt, darunter 300 weibliche, und da
seine Prokuristen zum Heeresdienst eingezogen sind. Jetzt
hat er bei einer Zeugenvernehmung wahrheitsgemäß be-
kanntgegeben, daß er zwar nicht politisch tätig sei, aber
sein Bruder, und daß er in dessen Hause mit Herrn
v. Beerfelde bekanntgeworden ist. Das hat genügt, daß
er auf Veranlassung des Oberkommandos in den Marken
den Gestellungsbefehl erhalten hat.
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Hinter ihm ist wie hinter den vielen Tausenden Arbeitern
der Geheimvermerk zu den Akten gegeben, daß er für die
Sicherheit des Deutschen Reichs gefährlich sei.
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Das Oberkommando hat ausdrücklich bestimmt, daß die
Kriegsbeorderung — das ist mit roter Tinte noch unter-
saichen — nur mit seiner Zustimmung aufgehoben werden
dürfe. Nicht militärische, nicht militärärztliche Gründe,
sondern die Willkür des Oberkommandos, einer politischen
Instanz, sollen darüber entscheiden, ob dieser Mann, der
bis zum Januar nächsten Jahres reklamiert ist, beim
Heere bleibt oder nicht.
dem Herrn Kriegsminister mitgeteilt. Ich werde ab-
warten, was geschieht nicht nur diesem einen gegenüber,
sondern vor allen Dingen auch den tausend Arbeitern
gegenüber, die in gleicher Lage sind. Hier müßte ein
Amnestiegesetz eingreifen. Verfolgten, Verfemten und
Verurteilten muß Recht geschehen. Sie fordern nicht
Gnade, sie wollen durch den Willen der Volksvertretung
in Freiheit gesetzt werden.
(Sehr wahr! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Der neue Reichskanzler dachte bei seiner Eröffnungs-
rede nicht an Amnestie. Meine Fraktion hat, wie der
stenographische Bericht ausweist, ihn durch Zurufe erst auf
diese Pflicht hingewiesen. In jedem politischen Land ist
es selbstverständlich, daß beim Regierungswechsel die
politischen Opfer des alten Systems befreit werden. In-
folge unseres stürmischen Verlangens nach Amnestie haben
einige Blätter dann diese Forderung aufgegriffen. Das
Ergebnis ist der Gnadenerlaß gewesen, der in jeder Be-
ziehung unzureichend ist.
(Sehr wahr! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Wir begnügen uns nicht damit, daß nur Zivilpersonen
begnadigt werden; wir verlangen die Ausdehnung auf die
Militärpersonen und die Matrosen. Der Notschrei, der
von den Matrosen aus dem Zuchthaus in Celle kommt,
ist geradezu markerschütternd. Mehrere sind bereits infolge
Hungers zugrunde gegangen.
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Andere leiden die schrecklichsten Qualen unter dem Hunger
und haben den Wunsch, daß sie ebenso wie einige ihrer
Kameraden lieber erschossen worden wären, als im Zucht-
hous zu enden.
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Es wird jetzt viel Aufhebens davon gemacht, daß
auch Liebknecht, also eine Militärperson, befreit ist. Ahnen
Sie denn nicht, von welch bitteren Gefühlen Liebknecht,
Dittmann und andere der Entlassenen beseelt sind, weil
ihnen Gnade gewährt ist, wo sie auf Befreiung durch den
Volkswillen rechneten? Ahnen Sie nicht, welcher Druck auf
diesen Männern lastet, daß sie in Freiheit gesetzt worden
sind, während andere hinter Gefängnis= und Zuchthaus-
mauern schmachten, obgleich sie dasselbe getan haben?
(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Nichts ist so peinlich wie die aufdringliche Reklame,
die insbesondere heute an vielen Stellen mit Liebknecht
getrieben wird. Eine Reklame, die ja nicht Liebknecht
gilt, sondern dem neuen Regime, als ob es etwas Großes
wäre, daß dieser Mann, der sich geopfert hat, um der
Menschheit früher den Frieden zu bringen, nun endlich in
Freiheit gesetzt worden ist. Die Arbeitermassen merken
die Absicht und werden verstimmt. Sie erinnern sich,
daß, von vielen anderen abgesehen, seit mehreren Jahren
schon ohne gerichtliches Urteil Frau Rosa Luxemburg in
Haft festgehalten ist. Es haben die Akten kein Material
ergeben, um ihr einen Strafprozeß zu machen. Aber
weil das nicht der Fall ist, soll sie jetzt noch länger als
die anderen sitzen, die vom Richter abgeurteilt worden sind.
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Schon politische Klugheit sollte Ihnen sagen, daß Sie nicht
diejenigen Männer und Frauen festhalten dürfen, die im
Ausland, auch im feindlichen Ausland, das größte An-
sehen genießen als Vorkämpfer der Friedensidee. Unsere
französischen Freunde haben auch jetzt in dieser Zeit, ob-
wohl infolge der Siege der Ententeheere der Chauvinis-=
mus in Frankreich blüht, mutig diesen Chauvinismus be-
kämpft und haben sich zu einem demokratischen Frieden
bekannt, allen Anfeindungen zum Trotz. Diese Stimmung
zu heben, das wäre ein Gebot nicht nur sogenannter,
sondern wirklicher staatsmännischer Politik.
(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Ich habe diesen Fall gestern (O)
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