Reichstag. — 194. Sitzung. Mittwoch den 23. Oktober 1918.
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(Dr. v. Payer, Stellvertreter des Reichskanzlers.)
(A) sich rüsten will für den Fall, daß es mit Vernichtung
(B
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bedroht wäre.
(Zurufe von den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Es ist eine Lebensnotwendigkeit für das deutsche Volk,
sich zur Wehr zu setzen, wenn seine Lebensinteressen ge-
fährdet werden. Das entspricht auch dem menschlichen
und vaterländischen Empfinden, und das ist gehandelt im
Geiste der Männer, die das Deutsche Reich geschaffen und
Deutschland groß gemacht haben.
(Sehr richtig! links.)
Meine Herren, lassen Sie mich nun auf die innere
Politik eingehen. Hier haben sich nun die Herren von
rechts und links ausgesprochen; das Ergebnis war unge-
fähr vorauszusehen. Von rechts wurde uns der Vor-
wurf gemacht, daß die Regierung und die Mehrheits-
parteien durch überstürzte und zu weitgehende Reformen
die Grundlagen des Staatswesens angegriffen haben,
und daß wir jetzt eilends dem Abgrunde zutreiben. Links
dagegen wird behauptet: alles, was wir bis jetzt getan
haben und was wir in Aussicht stellen, seien nur schwache
Versuche zu einer richtigen Reform, die nun eilends und
grundstürzend ausgenommen werden müsse. Vielleicht liegt
auch hier wieder einmal die Wahrheit in der Mitte. Es
sind Reformen von großer grundsätzlicher Bedeutung,
7 wir durchgeführt haben und durchzuführen im Begriffe
ind.
(Sehr richtig! links.)
Ihre praktische Tragweite, die wir heute noch nicht voll
übersehen können, wird sich erst in den nächsten Wochen
und Monaten, vielleicht in den nächsten Jahren ganz
zeigen können.
Als besonders beachtenswert möchte ich in dieser
Periode der Reformen eins hervorheben. Kaum hat es
wohl je eine Zeit und ein Volk gegeben, in denen so
zahlreiche und so einschneidende Reformen in so kurzer
Zeit durchgeführt worden sind, durchgeführt nicht bloß
auf friedlichem verfassungsmäßigem Wege, sondern durch-
geführt ohne die geringste Erschütterung, in besonnener,
ruhiger, fast könnte man sagen, in geschäftsmäßiger Weise.
Kann es einen besseren Beweis für die Haltung und
politische Schulung des deuischen Volkes geben? Das
war allerdings, nehme ich an, in diesem Umfange nur
deshalb möglich, weil es sich bei diesen Reformen nicht
um die Einführung neuer staatsrechtlicher Erfindungen
gehandelt hat, sondern um die Erfüllung alter seit Jahr-
zehnten aufgestellten Forderungen der großen Mehrheit
des deutschen Volkes, Forderungen, deren Nlchterfüllung
ein Fehler war, der nur einigermaßen entschuldigt werden
kann durch den leider so oft wahrgenommenen Mangel
jedes Verständnisses für die Lebensbedürfnisse und für
den politischen Kredit unserer Nation.
(Sehr richtig! links.)
Die Früchte, die wir jetzt pflücken, und die jahrzehnte-
lang gehegt und gepflegt worden sind von zielbewußten
und aufopferungsvollen Männern, sind heute reif, fast
überreif, kann man sagen. Darum fallen sie so rasch und
so schmerzlos. Mannigfach handelt es sich nur um die
Sanktionierung von Veränderungen, die im Bewußtsein
unseres Volkes tatsächlich sich so gut wie bereits voll-
zogen hatten.
Im übrigen darf man wohl sagen: wenn die
Reformen einmal gemacht werden müssen und sollen, so
war spätestens jetzt der richtige Augenblick gekommen, sie
zu machen.
(Hehr richtig! links.)
Der Augenblick war gekommen schon im Hinblick auf das,
was das deutsche Volk zu leisten und zu leiden gehabt
hat in den vier Jahren dieses Krieges. Die Reformen
sollten der Dank dafür sein, daß das deutsche Volk diese
Opfer auf sich genommen hat, und ste sollten den Ausporn
zu weiteren Leistungen des deutschen Volkes geben; denn
ein Volk kämpft williger und erfolgreicher für ein freies
und dankbares Vaterland als für ein Vaterland, in dem
es sich nur als Bürger zweiter Gattung ansehen kann.
Noch ein Gesichtspunkt ist hier maßgebend. Unsere
Feinde begründen ihren Willen, uns zu vernichten, mit
der Behauptung, das deutsche Volk sei politisch so ent-
rechtet und unterdrückt, so von kleinen herrschenden Kreisen
abhängig, daß es um deswillen eine ständige Gefahr für
den Frieden und für die ganze Welt bedeute, jetzt
wie für die Zukunft, und dieser Glaube, der im Auslande
verbreitet ist, ist eines der wesentlichsten Hindernisse für
das Zustandekommen des Friedens bisher gewesen.
Dieses Hindernis aus der Welt zu räumen, war Aufgabe
einer Regierung, die sich ihrer Pflicht bewußt ist. Es
hat also hier auch an einem schwerwiegenden äußeren
Anlaß nicht gefehlt. Man kann, glaube ich, sagen: die
Reformperiode und das, was in ihr geleistet wurde, und
geleistet werden soll, hat die Zustimmung fast des ganzen
deutschen Volkes gefunden, und sie wird auch die Zu-
stimmung der Weltgeschichte finden, wenn sie einmal von
dieser gerichtet werden wird. Sie wird vor ihr mit Ehren
bestehen.
Und was wird von der anderen Seite verlangt?
Meine Herren! Es ist leicht, den Stein, wenn man ein-
mal im Reformieren ist, recht weit hinaus zu werfen und
mit Kühnheit und Schärfe die sofortige und restlose Durch-
führung auch derjenigen Neformen zu heischen, die zweifel-
los heute nicht oder noch nicht dem allgemeinen Volks-
begehren entsprechen. Wer aber verantwortlich ist, der
muß sich jede Reform, die er ins Leben rufen will,
an sich und in ihrer Wirkung aufs gewissenhafteste
überlegen. Sicherlich will das deutsche Volk nicht,
daß das, was geschieht und angekündigt wird, als
der Abschluß der Neihe von Reformen angesehen werde,
die es begehrt. Auch wir in der Reichsleitung
denken nicht daran, jetzt das Verfassungswesen, weil
einiges geschehen ist, für die Zukunft versteinern zu wollen.
O nein! Zahlreiche und tiefgreifende Reförmen sind noch
in Aussicht und müssen teils rasch, teils in späterer Zu-
kunft ihre Erlediguug finden. Aber es ist falsch, meine
Herren, zu glauben, daß man, was in langen Jahren ver-
säumt und aufgeschoben wurde, nun über Nacht mit einem
Schlage nachholen kann, und daß man bei günstiger Ge-
legenheit Hals über Kopf jede Entwicklung durchsetzen
könne, die vielleicht irgendwo in einem anderen Lande
unter günstigen Umständen, unter anderen Verhältnissen
durchführbar war oder im Studierzimmer des Theoretikers
ansgeheckt worden ist. Wir müssen die Dinge nüchtern
betrachten. Solide muß der Bau sein, wenn er Bestand
haben soll, und auf jeden Stein kann vernünftigerweise
erst dann wieder ein anderer gesetzt werden, wenn er selbst
gut sitzt. Zu staatsrechtlichen Experimenten und zu staats-
rechtlichen Kunststücken — das ist unsere Auffassung von
der Sache — ist im fünften Kriegsjahre kein Platz
Meine Herren, der konservative Redner hat uns sehr
ernsthaft darüber zur Rede gestellt, weshalb wir nicht an
Stelle der Mehrheitsregierung, wie sie jetzt eingeführt
worden ist, eine alle Parteien von der äußersten Rechten
bis zur äußersten Linken umfassende Koalitionsregierung
gewählt haben, und weshalb wir nicht dementsprechend
die Konservativen in die Regierung aufsgenommen haben.
Glauben Sie mir, meine Herren, auch wir sind nicht
achtlos an dieser Frage vorübergegangen. Auch uns ist
es bekannt, daß es im Leben der Nationen Augenblicke
gibt, in denen es ein nützliches, oft das einzige Mittel
ist, in der Stunde äußerster Gefahr die Kräfte einer
Nation zusammenzufassen, wenn man eine solche Koalitions=
regierung bildet. Das hat sich auch in der letzten Zeit
gezeigt, wie schon manchmal vorher.
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