Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

Reichstag. — 194. Sitzung. Mittwoch den 23. Oktober 1918. 
(Stychel, Abgeordneter.) 
(A) wieder gutzumachen? Können wir da trauen, müssen wir 
da nicht noch verschärfte Garantien verlangen? — Wem 
wird dann die Schuld zugeschrieben werden? Solchen 
Kundgebungen! Ist das im Sinne der Ziele der deutschen 
Regierung? Es würde schwerwiegend sein, wenn sich Ver- 
treter der deutschen Regierung in dieser Beziehung eben- 
falls auf die Seite solcher Kundgebungen stellen und ihre 
Stellung gegenüber der Entente, mit der sie jetzt eben 
verhandeln, auf diese Weise schwächen wollten. 
Und die Begründung, die man in diesen Kund- 
gebungen zu lesen bekommt? Da wird Statistik gegeben. 
Was Statistik ist, das wissen wir ja alle, wurde sie doch 
schon mit einer öffentlichen Dirne verglichen. Sie ist zu 
allem zu gebrauchen, gibt sich zu allem her. Wie kommt 
denn diese amtliche Bevölkerungsstatistik zustande, wie 
künstlich, wie einseitig? Wie hat bei der amtlichen Volks- 
zählung das Abhängigkeitsverhältnis vieler Leute, die 
sich da zu erklären hatten, mitgewirkt? Wie ein- 
schüchternd wirkt weiter das „schneidige“ Auftreten 
der aus Arbeitgeber-, Beamten-, Lehrerkreisen sorg- 
sam herausgewählten Volkszähler auf die breiten 
Massen des Volkes, besonders auf dem Lande? 
Wie werden die Zweisprachigen behandelt, welche die 
polnische und die deutsche Sprache beherrschen? Natürlich 
als Deutsche! Kassuben und Masuren werden als be- 
sondere Nationen betrachtet und eingeschrieben. Die durch 
die preußische Polenpolitik verdrängten Polen sind in der 
Statistik nicht vorhanden, dafür aber die zur planmäßigen 
Germanisierung nach den polnischen Landesteilen massen- 
haft herangezogenen deutschen Beamten, Industriellen, 
Handwerker, Gutsbesitzer, Ansiedler! Und das Militär? 
An diesem Bevölkerungsverhältnis ist ja 100 Jahre lang 
zurechtgestutzt worden. Eine solche Statistik kann nicht 
entscheiden! Trotzdem muß auch diese für Posen und 
Oiulerschlesien das polnische Ubergewicht zugeben. Und 
B) wenn man nun, wie der Abgeordnete Haase es zu ver- 
langen schien, ein Plebiszit anordnen wollte, ja, in 
manchen Bezirken von Westpreußen würde das Plebiszit 
wertlos sein. Der jetzige Bestand ist künstlich geschaffen, 
und das kann nicht entscheidend sein. 
(Sehr richtig! bei den Polen. — Lachen und 
Zurufe bei den Nationalliberalen.) 
In der Begründung der Kundgebungen wurde auf 
die Kulturwerte aufmerksam gemacht, die von den 
Deutschen geschaffen worden sind. 
(Zuruf bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
— Uber Plebiszit habe ich nichts zu entscheiden. Ich 
meine nur, daß das Resultat bei der künstlich geschaffenen 
gegenwärtigen Sachlage nicht maßgebend sein kann. Das 
würde nicht gerecht sein. Beim Plebiszit müßte man auf 
die Vergangenheit zurückgreifen, man müßte gar die Toten 
mitstimmen lassen, 
(Heiterkeit.) 
die Verdrängten und die Ausgewanderten, dagegen die 
zur Gemanssterung neu hinzugezogenen Elemente aus- 
eßen. 
Meine Herren, es wurde also in diesen Kund- 
gebungen auch von deutscherseits geschaffenen Kultur- 
werten gesprochen, was ein Besitzrecht statuieren und die 
Preisgabe der polnischen Landesteile unmöglich machen 
sollo Wenn die polnischen Landesteile, ves nullius, 
herrenloses Gut, gewesen wären, da könnte man diese 
Begründung wohl gelten lassen. Aber die polnischen 
Landesteile waren nicht herrenloses Gut, der legitime 
Eigentümer ist da. Nehmen Sie nur ein Beispiel. Es 
wird ein Hausbesitzer samt Familie von einem Eindring- 
ling vertrieben; es kommt die neue Familie ins Haus, 
richtet sich häuslich ein, schafft neue Möbel und ncue 
Tapeten aun. Da kommt der frühere legitime Eigentümer 
und verlangt die Rückgabe. Da erwidert ihm aber jener, der 
  
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sich gewaltsam zum Besitzer gemacht hat: was willst du? — 
ich habe mich hier eingerichtet, habe die schönen Möbel 
und die neuen Tapeten angebracht, meine Familie hat 
sich hier niedergelassen, frage sie mal, ob sie raus will. 
Nein, das Haus gehört mir! 
Auf diese Weise kann man nicht argumentieren. Im 
übrigen müssen wir das der Entscheidung der internatio- 
nalen Konferenz überlassen. 
(Sehr richtig! bei den Polen.) Z 
Meine Herren, das polnische Volk hat auf sein Recht 
auf Freiheit niemals verzichtet. Unter drei fremde Mächte 
verteilt, fühlte es sich stets als Ganzes, als einheitlicher 
Organismus und verlangte nach Freiheit. Von zahl- 
reichen Kundgebungen der Polen und der polnischen Ver- 
tretungen will ich hier nur anführen, daß besonders 1867 
und 1871 solche offiziellen Kundgebungen seitens der 
polnischen Volkhsvertretung hier in Berlin erfolgten. Wird 
sich unter deutschen Männern von Ehre und von Einsicht 
etwa einer finden, der für den elementaren Ruf nach 
Freiheit im polnischen Volke, wo es auch sein mag, kein 
Verständnis hat, kann sich insbesondere innerhalb der 
bisherigen Grenzen des Deuschen Reiches ein ehrbarer 
und vernünftiger Mensch wundern, daß die Polen frei im 
eigenen Staate leben wollen? Hat man es gewollt und 
einzurichten verstanden, daß die Polen sich hier wohlfühlen 
önnen? 
(Zuruf von den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Durch Ausnahmegesetzgebung und Ausnahmebehandlung, 
durch harte Worte vom Regierungstisch und in der 
deutschen Presse, durch Beamtenschikanen wurde den Polen 
stets eingeprägt, daß sie auf der Scholle der Bäter nicht 
gleichwertige, gleichberechtigte Bürger des Staates sind, 
dem sie mit Gewalt einverleibt wurden. ppr--bp-- 
Meine Herren, als ein typisches Beispiel für die 
Haltung der Regierung den Polen gegenüber moöchte ich 
anführen, was der Minister v. Hammerstein am 25. Januar (D) 
1904 im Preußischen Abgeordnetenhause gesagt hat. Da 
stellte er die Polen den Deutschen gegenüber und sagte: 
Das sind keine ebenbürtigen Gegner; wir haben zu be- 
fehlen, und die Polen haben zu gehorchen! 
(Zuruf.) .. 
— Das dient eben zur Charakteristik der polenfeindlichen 
Haltung der Regierung. 
(Erneuter Zuruf.) 
— Ich kann nicht von der Lage in der ganzen Welt 
sprechen. Ich rede jetzt von der Lage der Polen im 
preußischen Staat und im Deutschen Reich. 
Meine Herren, abgesehen von der Mißachtung des 
Naturrechts auf Selbstbestimmung im eigenen Staate hat 
man es nicht einmal für nötig und nützlich gehalten, die 
Polen in ihrer Zwangslage im fremden Staate gerecht 
zu behandeln und an den Staat zu fesseln. Ich erinnere 
nur an die Gesetze, Verordnungen, Instruktionen, Versuche 
betreffend den Grundbesitz und die freie Verfügung darüber. 
Von Friedrich II. über Flottwell bis auf die neueste Zeit, 
was haben wir da alles zu verzeichnen gehabt! Immer 
Versuche, den polnischen Grundbesitz auszurotten oder 
möglichst zu verkleinern! Es gab Zeiten, wo polnische 
Kreditanstalten in ihrer Entwicklung gehemmt, dagegen 
deutsche gegründet wurden. Von diesen wurden die Polen 
verleitet, möglichst große Anleihen zu machen, dann wurden 
die Anleihen plötzlich gekündigt, Zahlungsschwierigkeiten 
geschaffen und auf verschiedene Weise insbesondere der 
Großgrundbesitz aus polnischer Hand in die deutsche über- 
geleitet. Das Ansiedlungsgesetz mit seiner Novelle kennen 
Sie ja alle. Aus Staatsmitteln, zu denen auch die 
Polen beisteuern mußten, wurde Grund und Boden aus 
polnischer Hand, auch hinterlistig durch vorgeschobene 
Zwischenkäufer, gelockt und unter deutsche Ansiedler verteilt. 
Staatliche Einrichtungen, wie „Mittelstandskasse“ und
	        
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