Reichstag. — 194. Sitzung. Mittwoch den 23. Oktober 1918.
(Stychel, Abgeordneter.)
(A) wieder gutzumachen? Können wir da trauen, müssen wir
da nicht noch verschärfte Garantien verlangen? — Wem
wird dann die Schuld zugeschrieben werden? Solchen
Kundgebungen! Ist das im Sinne der Ziele der deutschen
Regierung? Es würde schwerwiegend sein, wenn sich Ver-
treter der deutschen Regierung in dieser Beziehung eben-
falls auf die Seite solcher Kundgebungen stellen und ihre
Stellung gegenüber der Entente, mit der sie jetzt eben
verhandeln, auf diese Weise schwächen wollten.
Und die Begründung, die man in diesen Kund-
gebungen zu lesen bekommt? Da wird Statistik gegeben.
Was Statistik ist, das wissen wir ja alle, wurde sie doch
schon mit einer öffentlichen Dirne verglichen. Sie ist zu
allem zu gebrauchen, gibt sich zu allem her. Wie kommt
denn diese amtliche Bevölkerungsstatistik zustande, wie
künstlich, wie einseitig? Wie hat bei der amtlichen Volks-
zählung das Abhängigkeitsverhältnis vieler Leute, die
sich da zu erklären hatten, mitgewirkt? Wie ein-
schüchternd wirkt weiter das „schneidige“ Auftreten
der aus Arbeitgeber-, Beamten-, Lehrerkreisen sorg-
sam herausgewählten Volkszähler auf die breiten
Massen des Volkes, besonders auf dem Lande?
Wie werden die Zweisprachigen behandelt, welche die
polnische und die deutsche Sprache beherrschen? Natürlich
als Deutsche! Kassuben und Masuren werden als be-
sondere Nationen betrachtet und eingeschrieben. Die durch
die preußische Polenpolitik verdrängten Polen sind in der
Statistik nicht vorhanden, dafür aber die zur planmäßigen
Germanisierung nach den polnischen Landesteilen massen-
haft herangezogenen deutschen Beamten, Industriellen,
Handwerker, Gutsbesitzer, Ansiedler! Und das Militär?
An diesem Bevölkerungsverhältnis ist ja 100 Jahre lang
zurechtgestutzt worden. Eine solche Statistik kann nicht
entscheiden! Trotzdem muß auch diese für Posen und
Oiulerschlesien das polnische Ubergewicht zugeben. Und
B) wenn man nun, wie der Abgeordnete Haase es zu ver-
langen schien, ein Plebiszit anordnen wollte, ja, in
manchen Bezirken von Westpreußen würde das Plebiszit
wertlos sein. Der jetzige Bestand ist künstlich geschaffen,
und das kann nicht entscheidend sein.
(Sehr richtig! bei den Polen. — Lachen und
Zurufe bei den Nationalliberalen.)
In der Begründung der Kundgebungen wurde auf
die Kulturwerte aufmerksam gemacht, die von den
Deutschen geschaffen worden sind.
(Zuruf bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
— Uber Plebiszit habe ich nichts zu entscheiden. Ich
meine nur, daß das Resultat bei der künstlich geschaffenen
gegenwärtigen Sachlage nicht maßgebend sein kann. Das
würde nicht gerecht sein. Beim Plebiszit müßte man auf
die Vergangenheit zurückgreifen, man müßte gar die Toten
mitstimmen lassen,
(Heiterkeit.)
die Verdrängten und die Ausgewanderten, dagegen die
zur Gemanssterung neu hinzugezogenen Elemente aus-
eßen.
Meine Herren, es wurde also in diesen Kund-
gebungen auch von deutscherseits geschaffenen Kultur-
werten gesprochen, was ein Besitzrecht statuieren und die
Preisgabe der polnischen Landesteile unmöglich machen
sollo Wenn die polnischen Landesteile, ves nullius,
herrenloses Gut, gewesen wären, da könnte man diese
Begründung wohl gelten lassen. Aber die polnischen
Landesteile waren nicht herrenloses Gut, der legitime
Eigentümer ist da. Nehmen Sie nur ein Beispiel. Es
wird ein Hausbesitzer samt Familie von einem Eindring-
ling vertrieben; es kommt die neue Familie ins Haus,
richtet sich häuslich ein, schafft neue Möbel und ncue
Tapeten aun. Da kommt der frühere legitime Eigentümer
und verlangt die Rückgabe. Da erwidert ihm aber jener, der
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sich gewaltsam zum Besitzer gemacht hat: was willst du? —
ich habe mich hier eingerichtet, habe die schönen Möbel
und die neuen Tapeten angebracht, meine Familie hat
sich hier niedergelassen, frage sie mal, ob sie raus will.
Nein, das Haus gehört mir!
Auf diese Weise kann man nicht argumentieren. Im
übrigen müssen wir das der Entscheidung der internatio-
nalen Konferenz überlassen.
(Sehr richtig! bei den Polen.) Z
Meine Herren, das polnische Volk hat auf sein Recht
auf Freiheit niemals verzichtet. Unter drei fremde Mächte
verteilt, fühlte es sich stets als Ganzes, als einheitlicher
Organismus und verlangte nach Freiheit. Von zahl-
reichen Kundgebungen der Polen und der polnischen Ver-
tretungen will ich hier nur anführen, daß besonders 1867
und 1871 solche offiziellen Kundgebungen seitens der
polnischen Volkhsvertretung hier in Berlin erfolgten. Wird
sich unter deutschen Männern von Ehre und von Einsicht
etwa einer finden, der für den elementaren Ruf nach
Freiheit im polnischen Volke, wo es auch sein mag, kein
Verständnis hat, kann sich insbesondere innerhalb der
bisherigen Grenzen des Deuschen Reiches ein ehrbarer
und vernünftiger Mensch wundern, daß die Polen frei im
eigenen Staate leben wollen? Hat man es gewollt und
einzurichten verstanden, daß die Polen sich hier wohlfühlen
önnen?
(Zuruf von den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Durch Ausnahmegesetzgebung und Ausnahmebehandlung,
durch harte Worte vom Regierungstisch und in der
deutschen Presse, durch Beamtenschikanen wurde den Polen
stets eingeprägt, daß sie auf der Scholle der Bäter nicht
gleichwertige, gleichberechtigte Bürger des Staates sind,
dem sie mit Gewalt einverleibt wurden. ppr--bp--
Meine Herren, als ein typisches Beispiel für die
Haltung der Regierung den Polen gegenüber moöchte ich
anführen, was der Minister v. Hammerstein am 25. Januar (D)
1904 im Preußischen Abgeordnetenhause gesagt hat. Da
stellte er die Polen den Deutschen gegenüber und sagte:
Das sind keine ebenbürtigen Gegner; wir haben zu be-
fehlen, und die Polen haben zu gehorchen!
(Zuruf.) ..
— Das dient eben zur Charakteristik der polenfeindlichen
Haltung der Regierung.
(Erneuter Zuruf.)
— Ich kann nicht von der Lage in der ganzen Welt
sprechen. Ich rede jetzt von der Lage der Polen im
preußischen Staat und im Deutschen Reich.
Meine Herren, abgesehen von der Mißachtung des
Naturrechts auf Selbstbestimmung im eigenen Staate hat
man es nicht einmal für nötig und nützlich gehalten, die
Polen in ihrer Zwangslage im fremden Staate gerecht
zu behandeln und an den Staat zu fesseln. Ich erinnere
nur an die Gesetze, Verordnungen, Instruktionen, Versuche
betreffend den Grundbesitz und die freie Verfügung darüber.
Von Friedrich II. über Flottwell bis auf die neueste Zeit,
was haben wir da alles zu verzeichnen gehabt! Immer
Versuche, den polnischen Grundbesitz auszurotten oder
möglichst zu verkleinern! Es gab Zeiten, wo polnische
Kreditanstalten in ihrer Entwicklung gehemmt, dagegen
deutsche gegründet wurden. Von diesen wurden die Polen
verleitet, möglichst große Anleihen zu machen, dann wurden
die Anleihen plötzlich gekündigt, Zahlungsschwierigkeiten
geschaffen und auf verschiedene Weise insbesondere der
Großgrundbesitz aus polnischer Hand in die deutsche über-
geleitet. Das Ansiedlungsgesetz mit seiner Novelle kennen
Sie ja alle. Aus Staatsmitteln, zu denen auch die
Polen beisteuern mußten, wurde Grund und Boden aus
polnischer Hand, auch hinterlistig durch vorgeschobene
Zwischenkäufer, gelockt und unter deutsche Ansiedler verteilt.
Staatliche Einrichtungen, wie „Mittelstandskasse“ und