Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

Reichstag. — 194. Sitzung. Mittwoch den 23. Oktober 1918. 
(Dr. Graf v. Posadowsky-Wehner, Abgeordneter.) 
(A) — Diese Gesinnung, meine Herren, hat aber wesentlich 
dazu beigetragen. 
Meine Herren, es ist uns eine Anderung des Reichs- 
Rhanzler--Stellvertretungsgesetzes vorgelegt worden. Ich 
gestatte mir dazu einige staatsrechtliche Ausführungen zu 
machen, wie dies auch der Herr Vizekanzler heute getan 
hat. Nach der Reichsverfassung ist nicht der Reichskanzler 
mit seinen Staatssekretären die Reichsregierung, sondern 
die Reichsregierung sind die im Bundesrat vereinigten 
deutschen Regierungen. 
(Sehr richtig! rechts.) 
Bisher wurden zum Stellvertreter des Reichskanzlers nur 
Mitglieder des Bundesrats ernannt, weil nur diese wirkliche 
Mitglieder der Reichsregierung im engeren Sinne und in 
die Verhandlungen des Bundesrats in allen ihren Einzel- 
heiten eingeweiht waren. Jetzt sollen Stellvertreter — 
ich nehme an Parlamentarier — werden, die Staats- 
sekretäre, aber nicht Mitglieder des Bundesrats sind. 
Daraus wird sich folgendes ergeben. Zunächst werden 
diese Staatssekretäre nicht immer über die Verhandlungen 
des Bundesrats unterrichtet sein. Man könnte einwenden: 
der Reichskanzler ist Mitglied des Bundesrats und hat 
den ihm nachgeordneten Staatssekretären die Anweisung 
für ihr politisches Verhalten im einzelnen zu erteilen. 
Aber das steht nur auf dem Papier. 
(Sehr richtig! rechts.) 
Ein Staatssekretär, der ein großes Geschäftsgebiet ver- 
tritt, der hier Tag für Tag auf unvorhergesehene An- 
fragen zu antworten hat, der unerwartet und unvor- 
bereitet in die Verhandlungen des Reichstags eingreifen 
muß, kann über zahlreiche Einzelfragen, über die Stellung- 
nahme des Bundesrats zu den im Reichstag angeregten 
Fragen nicht erst die Weisung des Reichskanzlers ein- 
holen, sondern er kann nur seine Erklärungen abgeben 
nach der allgemeinen Stellungnahme der Regierung, wie 
(B) sie sich in den Verhandlungen des Bundesrats verkörpert. 
Dieser parlamentarische Staatssekretär wird aber anderer- 
seits auch die Auffassung seiner Partei zu vertreten 
suchen; und die Mehrheit wird hier aus drei verschiedenen 
Parteien gebildet. Daraus kann nichts anderes entstehen 
als politische Mißverständnisse und politische Gegensätze. 
Es ist mir deshalb unzweifelhaft, daß dieser Gesetz- 
entwurf dahin führen wird, daß man demnächst, um die 
Einheit der Regierung wiederherzustellen, die Einheit 
zwischen dem Reichskanzler, seinen Stellvertretern und den 
m Bundesrat vereinigten Einzelregierungen, schließlich zu 
einem kollegialen Rächaminiterium mit dem 
kanzler als Vorsitzenden wird kommen müssen. 
(Sehr richtig! links.) 
Meine Herren, auch der Herr Vizekanzler hat schon 
angedeutet, daß diese Gesetzentwürfe, die uns jetzt vor- 
liegen, und insbesondere diese Stellvertretungsgesetze in 
ihren Folgen noch gar nicht zu übersehen sind. 
(Sehr richtig! rechts.) 
Ich bin ganz derselben Ansicht. Die Folge wird, so 
glaube ich, das balegial Reichsministerium sein. 
Meine Herren, ich bin aber auch ferner der Ansicht: 
da die verbündeten Regierungen dem Gesetze zugestimmt 
haben, kann man nicht föderalistischer sein als die Einzel- 
regierungen selbst, 
Uehr richtig) 
und ich glaube deshalb, daß dieser Gesetzentwurf die 
roße Mehrheit im Reichstag finden wird, ja, daß viel- 
eicht eine einstimmige Annahme erfolgt. Es ist unzweifel- 
zuß, daß dieser Gesetzentwurf nach einer ganz anderen 
ichung hin geht als das föderalistische Reglerungssystem 
in Deutschland. Wenn man diesen Gesetzentwurf vertritt, 
kann man deshalb nicht gleichzeitig sagen, daß man unerschüt- 
terlich auf dem Boden der donberallischen Regierung steht. 
(Sehr richtig! rechts.) 
Reichs- 
  
6201 
  
Das ist ein innerer Widerspruch. Man erkennt entweder (O) 
die politischen Folgen des Gesetzentwurfs nicht, oder man 
will sie nicht erkennen. 
Meine Herren, ich finde aber noch einen zweiten 
inneren Widerspruch. Ich sage Ihnen ganz offen: 
ich habe es bedauert, daß das preußische Abgeordneten- 
haus sich nicht sofort mit dem allgemeinen gleichen 
Wahlrecht einverstanden erklärt, sondern erst kost- 
bare politische Zeit versäumt hat mit den Aufbau eines 
unmöglichen Mehrheitsstimmrechts. Ich bedauere ebenso, 
daß das preußische Herrenhaus politisch kostbare Zeit ver- 
jäumt hat mit so unmöglichen Gestaltungen wie der Bil- 
ung eines Abgeordnetenhauses aus berufsständischen 
Wahlen,. Das allgemeine Wahlrecht war, wie sich die 
Verhältnisse gestaltet hatten, mag man nun grundsätzlich 
auf dem Boden dieses allgemeinen Wahlrechtes stehen oder 
nicht, in der Tat nicht mehr zu vermeiden. Aber, meine 
Herren, wenn man erklärt, man stehe unerschütterlich auf 
dem Staatsgrundsatz des föderalistischen Reichs, dann kann 
man auch hier von der Bank des Bundesrats aus nicht 
versuchen, einen Druck auf die Einzelstaaten zu üben, nach 
welchem Wahlrecht sie ihre gesetzgebenden Versammlungen 
bilden sollen. 
(Sehr richtig! rechts. — Zuruf links.) 
Nach welchen Grundsätzen der Einzelstaat seine gesetz- 
gebenden Versammlungen bildet, das ist das vornehmste 
Souveränitätsrecht des Einzelstaates; wenn man ihm 
dieses Recht beschränken will, dann steht man nicht mehr 
auf dem Boden des föderalistischen Staatswesens. 
(Sehr richtig! rechts. — Zuruf links.) 
Ich fasse mich deshalb über diesen Punkt dahin zu- 
sammen: Dieser Gesetzentwurf, so einfach und harmlos er 
aussieht, wird zu einer wesentlichen Veränderung der 
Stellung des Reichskanzlers zum Bundesrat und zu einer 
wesentlichen Veränderung der Stellung des Bundesrats 
gegenüber den Einzelregierungen führen! 
(Lebhafte Zustimmung rechts.) 
Vom Herrn Abgeordneten Ebert ist eine Erörterung 
über die Zustände unter dem Belagerungszustandgesetz ge- 
pflogen worden. Der Belagerungszustand wird jetzt be- 
kanntlich nach dem preußischen Gesetz gehandhabt. Ich 
muß aber zugestehen: wie dieses preußische Gesetz er- 
gangen ist, hat man wahrscheinlich an eine solche Aus- 
dehnung der militärischen Befugnisse in bezug auf den 
Belagerungszustand nicht gedacht. 
(Sehr wahrl!) 
Man hat daran gedacht — und das ergibt auch die Be- 
gründung dieses preußischen Gesetzes —, daß im Krieg 
urch die militärische Gewalt die öffentliche Ordnung auf- 
recht zu erhalten ist, daß durch militärische Gewalt alles 
zu verhindern ist, was für die Kriegsführung gefährlich 
und abträglich sein kann. Aber man hat diesem Belage- 
rungsgesetze eine Ausdehnung gegeben, die manchmal über- 
rascht hat, 
hat die militä #r- Fiei 
man hat die militärischen Befugnisse sogar ausgedehnt 
auf Vorschriften über die Bekleidung 6% Damen. 
glaube allerdings, daß es notwendig ist, daß die mili- 
tärische Gewalt alles verhindert, was unsere Kriegsführung 
gefährden kann; in England und Frankreich geht man in 
dieser Beziehung viel weiter als bei uns. Aber ich bin 
auch der Uberzeugung, daß dieses Belagerungszustands- 
gesetz so viele Mißgriffe, 4% viele Mißverständnisse herbei- 
geführt hat, daß es nach Friedensschluß unbedingt not- 
wendig sein wird, ein Reichsgesetz betreffend den Belage- 
rungszustand zu erlassen. In Streitigkeiten über Ver- 
ammlungs= und Vereinsrecht, über Zensur usw. zwischen 
litär= und Zivilbehörden soll in Zukunft der Nulbtr- 
oberbefehlshaber entscheiden. Ich meine, der hat wichtigeres 
zu tun, als Akten zu lesen. Schließlich wird es ein nach- 
  
  
  
(O)
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.