6 Geschichtliche Einleitung. § 3
Diese zuwartende Stellung konnte indessen nicht sehr lange mehr festgehalten werden. Die
Mißstimmung im Lande wuchs immer stärker an; die Ansprüche Bayerns an badische Landes-
teile, welche seit dem Vertrage von Ried nicht mehr zur Ruhe gekommen waren #), traten mit
Rücksicht auf den ungünstigen Gesundheitszustand des Großherzogs und das Hinsterben seiner
männlichen Abkömmlinge wieder schärfer hervor. Wollten dem neu geschaffenen Staatswesen
die Sympathien der maßgebenden Kreise außerhalb Badens erhalten bleiben und wollte es
selbst in seinem Bestande gefestigt werden, so erschien die endliche Erfüllung der gemachten
Zusagen unumgänglich. Es wurde deshalb, nachdem die in den früheren Verfassungsentwürfen
mitaufgenommene Regelung der Thronfolgefrage durch ein unterm 4. Oktober 1817 erlassenes
Hausgesetz besonders behandelt war, abermals eine Kommission einberufen, welche dem Groß-
herzog einen von Finanzrat Neben ius gefertigten fünften Entwurf zur Annahme vorschlug,
der dann auch unterm 22. August 1818 die Genehmigung des im Schwarzwaldbade Griesbach
weilenden Landesherrn erhielt und unterm 29. gleichen Monats durch das Staats= und
Regierungsblatt No. 28 dem Lande als „Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden“
förmlich verkündet wurde.
Der wesentliche Teil des Inhaltes der Verfassungsurkunde, die nach dem Zeugnis ihres
Verfassers der von Kaiser Alexander verliehenen polnischen Konstitution nachgebildet war?),
bestand aus den Vorschriften über die neu eingeführte Landesrepräsentation (Verfassungsurk.
##J 26—83). Bei deren Ausgestaltung hatte man, um den Forderungen des Adels gerecht zu
werden, wiederum auf das in den ersten Entwürfen bereits angenommene, dann aber verworfene
Zweikammersystem zurückgegriffen unter Privilegierung der aus Volkswahlen hervorgehenden
zweiten Kammer. Die Befugnisse der „Landstände“ erstreckten sich auf das Gebiet der Gesetzgebung,
und vor allem auch auf die Bewilligung der Auflagen. Den Vorschriften über die Landstände voraus
gingen zwei kürzere Abschnitte, von denen der erstere (I# 1—6) eine rechtliche Charakterisierung
des Großherzogtums enthielt unter nochmaliger Sanktionierung des Hausgesetzes vom 4. Okt.
1817, während der zweite (§#§# 7—25) unter der Ueberschrift: „Staatsbürgerliche und politische
Rechte der Badener und besondere Zusicherungen“ die Grundzüge angab, nach denen die Landes-
regierung geführt werden sollte, unter ausdrücklicher Verwerfung gewisser als besonders drückend
empfundener Eingriffe in den Rechtskreis der Staatsangehörigen.
Die Verfassungsurkunde vom 22. August 1818 hat in der Folgezeit eine Reihe von Aenderungen
erfahren, in weitgehendster Art durch die Gesetzgebung des Jahres 1904 ); sie ist aber trotzdem bis
in die Gegenwart die wesentlichste Grundlage des in Baden geltenden öffentlichen Rechtes geblieben.
Als Ergänzung der Verfassungsurkunde erging, nachdem Großherzog Karl noch vor dem
Inkrafttreten der neu geschaffenen Organisation seinen schweren Leiden erlegen war, am
23. Dezember 1818 bereits unter der Herrschaft seines Nachfolgers Großherzog Ludwig eine
besondere das Wahlverfahren regelnde Landtagswahlordnung, die nach verschiedenen
Einzeländerungen im Jahre 1897 eine durchgreifende Umarbeitung erfuhr und im Jahre 1904
durch ein neues „Landtagswahlgesetz“ ersetzt wurde.
Die Wahlen zur ersten ständischen Versammlung wurden zu Beginn des Jahres 1819 voll-
zogen, die feierliche Eröffnung der Landstände erfolgte am 22. April des gleichen Jahres.
Die äußeren Verhältnisse des Großherzogtums in der hier zu behandelnden Zeitperiode
bestimmten sich zunächst durch die Zugehörigkeit des Landes zum Rheinbund. In der in Aussicht
genommenen Bundesversammlung, die zu Frankfurt tagen sollte, aber nie zusammentrat, hatte
der Großherzog Sitz und Stimme in dem Kollegium der Könige "). Eine erhebliche Gelände-
erwerbung brachte noch der im Vollzuge des Wiener Friedens vom 14. Oktober 1809 mit
Württemberg abgeschlossene Staatsvertrag vom 2. Oktober 1810, der gegen Abtretung einzelner
kleinerer Stücke dem Lande durch Zuweisung der ehemals österreichischen Landgrafschaft Nellen-
burg mit Stockach, Radolfszell und anderen Orten die Verbindung der Bodenseegebiete mit dem
Hauptlande verschaffte ?5.
1) Ueber die bayr. Ansprüche vgl. v. Seydel bayr. StRt. II. Aufl. Bd. 1 § 29 Anm. 41
und die in der bad. Bibliothek Bd. 1 S. 79 f. angeführte Literatur.
2) Vgl. v. Weech, a. a. O. S. 98.
3) Eine genaue Zusammenstellung aller Abänderungen gibt Binding d. St. Grund-Ges.
(Baden) II. Aufl. Vorbemerkung.
4) Rh B. Art. 5 ff.
5) RBl. 1810 Nr. 57. In die vorhergehenden Jahre von 1806 an fallen noch eine Reihe
weiterer Staatsverträge mit Hessen, Würzburg, Württemberg und dem Kanton Aargau über
kleinere Erwerbungen und Vertauschungen (vgl. Weizel a. a. O. S. 9 f.). Der aus dem-
selben resultierende Zuwachs an Einwohnern betrug 32 100 Seelen.