§ 66 Der Gang der Gesetzgebung. 211
wesenden Mitglieder mit dem Inhalte des Gesetzesvorschlages einverstanden er-
klärt hat 1).
Handelt es sich um eine Beschlußfassung über Gesetzesvorschläge, welche die
Verfassungsurkunde oder solche Gesetze, die sich ausdrücklich als Bestandteile der-
selben oder als Verfassungsgesetze bezeichnen, ergänzen, erläutern oder abändern
sollen, so ist die Anwesenheit von drei Vierteilen und eine Mehrheit von zwei
Dritteilen der anwesenden Mitglieder verlangt 2). Diese Erschwerung gilt aber
nur für diejenigen Gesetzesvorschläge, welche in den formellen Bestand einer
der oben angeführten Gesetze eingreifen; sie findet keine Anwendung, wenn nach
Aufhebung einer verfassungsmäßigen Vorschrift die in der letzteren enthalten ge-
wesenen Bestimmungen in formell selbständiger Weise neu geregelt werden 3). Hier
genügt die Beobachtung der für die einfachen Gesetze verlangten Voraussetzungen.
Wirkt ein neuer Gesetzesvorschlag auf ein Verfassungsgesetz nur durch einzelne seiner
Bestimmungen ein, so genügt es, wenn die strengere Form nur bei diesen Anord-
nungen eingehalten ist. Finden bei der Beratung eines als Verfassungsgesetz anzuse-
henden Entwurfes über dessen Einzelbestimmungen Sonderabstimmungen statt, so
bedarf es für diese letzteren nicht der erhöhten Majorität und der verstärkten Anwesen-
heitszahl. Es genügt, wenn beide Erfordernisse bei der Hauptabstimmung erfüllt sind ).
Die rechtliche Bedeutung der Zustimmung der Stände besteht lediglich in der
damit erfolgten Feststellung des Gesetzesinhaltes. Auf den eigentlichen Erlaß des
Gesetzes erstreckt sich die Mitwirkung der Stände nicht, wenn diese Mitarbeit für das
Zustandekommen auch bei der Verkündung des Gesetzes ausdrücklich erwähnt wird.
Der im 66 der Verf. Urk. gebrauchte Ausdruck „bestätigt“ darf nicht etwa in dem
Sinne verstanden werden, als ob der Großherzog mit der Erklärung seines Willens
lediglich dem von einem anderen Organ vorgenommenen gesetzgeberischen Akte seine
Zustimmung erteile. Vielmehr ist nach der ganzen Struktur der Verfassung auch für
Baden davon auszugehen, daß die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt allein vom
Großherzoge gehandhabt wird, und daß die Mitwirkung der Stände dieser Ausübung
nur eine Schranke setzt. Mit der Bestätigung eines von den Ständen angenommenen
Entwurfes erklärt deshalb der Großherzog nichts anderes, als daß er der Ausübung
seiner Gesetzgebungsgewalt im Einzelfalle ein von den Ständen festgestelltes Operat
zugrunde legen wolle. Allerdings ist er bei der Auswahl des von ihm zu verwendenden
Gesetzestextes auf die von den Ständen getroffenen Feststellungen beschränkt, im übri-
gen aber bleibt die Entschließung, ob er von seiner Gesetzgebungsgewalt Gebrauch
machen will oder nicht, ihm allein überlassen. Er kann deshalb die „Bestätigung“ auch
dann noch verweigern, wenn sich der Inhalt des von den Kammern genehmigten Ge-
setzesentwurfes mit dem von der Regierung gemachten Vorschlage vollkommen deckt 5),
und er vermag sie andererseits zu jedem, ihm geeignet erscheinenden Zeitpunkte zu-
1) Verf. Urk. § 65, J 72.
2) Verf. Urk. 3 64, § 73.
3) Vgl. Dorner, Ausf.G. S. 3; der Sache nach übereinstimmend auch Wielandta. a. O.
S. 5 und Glocknerg. a. O. S. 142 f. Die Praxis geht dahin, die Zahl der sogen. „Verfassungs-
gesetze“ immer mehr zu mindern.
4) Vgl. Glockner a. a. O. S. 143 l. Absatz.
5) Dies geschah z. B. im Jahre 1822 nach der Beratung über das Gesetz wegen Aenderung der
Ministerverantwortlichkeit. Vgl. die Notiz Ldtg. 1865/66 Prot. II. K. Beil. H. 6 S. 130 f.
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