220 Die Gesetzgebung. § 69
werden“. Handelt es sich bei der betreffenden Verordnung um eine Verletzung
der Verfassung oder verfassungsmäßiger Rechte, so ist die zweite Kammer allein
zur Beschwerde befugt 1).
Ein analoges Beschwerderecht besitzt die zweite Kammer auch dann, wenn ein
die Verfassung änderndes Gesetz nicht mit der für solche Gesetze vorgeschriebenen
Mojorität zustande kam, oder wenn bei der Beratung eines unter die §## 60
und 61 der Verf.-Urk. fallenden Gesetzes nicht die dortselbst gegebenen Vor-
schriften beachtet wurden.
Die erhobene Reklamation verpflichtet die Regierung zur Prüfung der
Rechtsgültigkeit und eventuell zur Aufhebung der fälschlich erlassenen Vorschrift.
Solange diese Aufhebung nicht erfolgt ist, bleibt die angefochtene Norm aber
nach wie vor in Kraft, vorbehaltlich natürlich des richterlichen Prüfungsrechts
über deren Wirksamkeit im Einzelfall.
2. Die Frage des Prüfungsrechtes der Gerichte hat in Baden, obwohl sie
wiederholt zum Gegenstand eingehender Beratungen der Stände gemacht worden,
eine erschöpfende gesetzliche Regelung bis jetzt nicht gefunden.
a) Handelt es sich um die Anwendung eines in der gehörigen Form
erlassenen Gesetzes, so kommt dem Richter ein Nachprüfungsrecht nicht zu.
Dies ergibt sich bereits aus dem Wesen der früher besprochenen „Ausfertigung“
des Gesetzes durch den Großherzog unter Gegenzeichnung eines Ministers.
Unterstützt wird diese Auffassung durch die Tatsache, daß im Pol Str GB. ein
richterliches Prüfungsrecht ausdrücklich nur gegenüber den Verordnungen aner-
kannt wird.
Der Richter kann sich der Anwendung eines Gesetzes deshalb auch nicht
aus dem Grunde entziehen, weil bei der Feststellung des Gesetzesinhaltes inner-
halb der Stände eine von der Verfassung vorgeschriebene Form nicht einge-
halten wurde. Dies gilt selbst dann, wenn sich ein Gesetz ausdrücklich als Ver-
fassungsgesetz bezeichnet, ohne daß die für die Annahme solcher Gesetze ver-
langten besonderen Voraussetzungen erfüllt wurden. Die in der ersten Zeit des
badischen Verfassungslebens vertretene Anschauung, daß die Verfassung eine über
den anderen Gesetzen stehende Norm bilde, welche von der Befolgung der ihr
widerstreitenden Gesetze entbinde, findet im positiven Rechte des badischen
Staates keine Begründung. Hat bei dem Zustandekommen eines in die Ver-
fassung eingreifenden Gesetzes eine Verletzung der ständischen Kompetenzen statt-
gefunden, so bleibt der Austrag dieser Streitfrage allein den Kammern vor-
behalten.
Als ein Gesetz höherer Art, bei dessen Entgegenstehen die Anwendung eines
Landesgesetzes zu unterbleiben hat, kommen für den badischen Richter nur die
Vorschriften des Reiches in Betracht 2). Die Landesgesetzgebung hat diese Prüfung
dem Richter wesentlich erleichtert, indem sie, ohne sich um die dagegen er-
hobenen theoretischen und auch praktischen Bedenken zu bekümmern, in all den
Fällen, in welchen nach ihrer Ansicht eine landesrechtliche Vorschrift durch ein
.I) Es besteht bei der II. K. eine besondere Kommission, welche die Aufgabe hat, die zu bean-
standenden Verordnungen aufzusuchen.
2) RV. Art. 2.