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gefährdet ist, aus Gründen des öffentlichen Interesses die Aufgabe der Erziehung
unter Ausschaltung der privatrechtlich Erziehungsberech-
tigten von sich aus in die Hand zu nehmen (Zwangserziehung).
In ersterer Hinsicht kommen vor allem zahlreiche Vorschriften des PStr#.
in Betracht, welche unsittliche Handlungen, die, ohne kriminell strafbar zu sein, öffent-
liches Aergernis erregen können, verbieten, oder darauf ausgehen, den Anreiz zu un-
sittlichen Handlungen zu beseitigen oder zu verhüten. Hierher gehören 1) die Bestim-
mungen über das polizeiliche Einschreiten gegen uneheliches Zusammenleben, über die
Verwahrung von Zuchttieranstalten und läufigen Hündinnen, über das Baden an
öffentlichen Orten, über die Maßregeln gegen Trunkene und Trunkenbolde, über den
Wirtshausbesuch von Schülern, Tierquälerei, Lotterie und Ausspielungen; die Vor-
schriften über die Polizeistunde, über Tanzbelustigungen 2) und über die weltliche Feier
der Sonn= und Festtage ). Gegen gewohnheitsmäßige Trunkenbolde, deren Lebens-
weise öffentliches Aergernis erregt, oder die Befürchtung rechtfertigt, daß für sie
oder ihre Angehörigen Armenunterstützung gewährt werden muß, kann nach fruchtloser
Verwarnung ein Wirtshausverbot ausgesprochen werden 4), dessen Uebertretung auch
die beteiligten Wirte mit straffällig macht.
Der Bekämpfung der Trunksucht dient auch die im § 42 der Vollz. VO.z. Gew. O.)
auf Grund des § 33 Abs. 3 dieses Gesetzes getroffene Anordnung, daß die Erteilung
der Erlaubnis zum Ausschenken von Branntwein oder zum Kleinhandel mit Brannt-
wein und Spiritus allgemein von dem Nachweis eines Bedürfnisses abhängig
zu machen sei, ebenso die Bestimmung, daß ein gleiches in allen Gemeinden unter 15 000
Einwohnern für die Erlaubnis zum Wirtschaftsbetrieb zu gelten habe.
Ueber die polizeiliche Beaufsichtigung von Dirnen bestehen keine allgemeinen Vor-
schriften. Jedoch enthalten die in dieser Hinsicht auf Grund des § 361 Ziff. 6 RStGB.
erlassenen ortspolizeilichen Anordnungen sehr weitgehende Vollmachten zur Ein-
schränkung der persönlichen Freiheit dieser Personenklasse. Der § 4 Abs. 5 Ziff. 1
VMRfl G. hat eine verwaltungsgerichtliche Klage gegen derartige polizeiliche Eingriffe
ausdrücklich verweigert.
§ 135. Die Zwangserziehung 5). Die erste landesgesetzliche Regelung des In-
stituts der Zwangserziehung erfolgte in Baden durch das Ges. v. 4. Mai 1886, die
staatliche Fürsorge für die Erziehung der verwahrlosten Jugend betr. 7). Vordem war
eine Zwangserziehung nur möglich in dem Falle des § 56 RSt G., wenn der Richter
wegen mangelnder Einsicht des Angeklagten freigesprochen hatte. Das angeführte
Gesetz beschränkte sich aber nicht etwa auf die im §& 55 des RSt GB. (nach der Fassung
der Novelle v. 26. Febr. 1876) bezeichneten Fälle, sondern ließ darüberhinausgehend
1) Vgl. #um folgenden den Titel II des speziellen Teils des PStr G. (55 71b—79), sowie
bei §#§ 60 u. ff.
2) VO. v. 24. Juli 1907 (G. u. VOl. S. 303) u. BVO. v. 29. Nov. 1865 (Reg.Bl. S. 688).
3) RSte#B. 5366 Ziff. 1. Ldh. V O. v. 18. Juni 1892 mit Zusätzen (letzter vom 20. Febr. 1907
G.u. VOl. S. 139).
4) §76a PStrGB. Das Verbot erstreckt sich auch auf das Kaufen von Branntwein bei Klein-
händlern. Ueber Einsprachen gegen dasselbe entscheidet der Bezirksrat.
5) Vom 23. Dez. 1883 (G.u. VOBl. S. 317), vergl. oben S. 425.
6) Vgpl. Dorner, Bad. RPolG#B. S. 570 ff., sowie Dorner und Senga. a. O. S.665 ff.
7) G.u. W l. S. 225.