§ 22 Die rechtliche Stellung der einzelnen Ständemitglieder. 75
§ 22. Die rechtliche Stellung der einzelnen Ständemitglieder. 1. Es ent-
spricht durchaus dem Wesen der badischen Landstände, wenn die Verfassungs-
urkunde in ihrem § 48 ausdrücklich vorschreibt, daß die Ständemitglieder über
die Gegenstände ihrer Beratungen nach freier Ueberzeugung abzustimmen haben,
und daß sie von ihren Kommittenten keine Instruktionen annehmen dürfen.
Zwischen den Ständemitgliedern und ihren Wählern, bezw. dem einzelne Mit-
glieder der ersten Kammer ernennenden Großherzog besteht kein Rechtsverhäll-
nis. Jedes Ständemitglied ist vielmehr Vertreter des ganzen Volkes, d. h. sein
Wille kommt rechtlich allein in Betracht als „Mitbildner“ des von der Gesamt-
heit der Stände auszusprechenden Volkswillens 1). Diese Unabhängigkeit gilt
insbesondere auch bezüglich der für einen Standesherrn als Stellvertreter in die
erste Kammer berufenen Mitglieder 2).
An etwaige Verstöße gegen die Vorschrift des § 48 sind besondere Rechts-
folgen nicht geknüpft. Die trotz des Verbotes erfolgte Uebernahme eines im-
perativen Mandats seitens eines Ständemitgliedes macht deshalb dessen Wahl
oder Ernennung nicht ungültig.
2. Zur Stärkung der Unabhängigkeit der Ständemitglieder gegenüber der
Regierung hatte die Verfassung bereits in ihrer ursprünglichen Form den Stände-
mitgliedern
a) einen besonderen Schutz gegen Verhaftungen gewährt, der
jedoch nicht als Bevorzugung der einzelnen Mitglieder, sondern nur als eine Be-
fugnis der betreffenden Kammer anzusehen ist, von ihren Mitgliedern gewisse
obrigkeitliche Handlungen fernzuhalten 3). Verf.-Urk. § 49.
b) Dem gleichen Zwecke dient der durch die Verf.-Novelle vom 21. Oktbr.
1867 Art. 2 den Ständemitgliedern gewährte Schutz der freien Mei-
nungsäußerung. Verf.-Urk. § 48a. „Kein Kammermitglied kann wegen
seiner Abstimmungen oder wegen seiner Aeußerungen bei Kammer-, Abteilungs-
oder Kommissionsverhandlungen anders als nach Maßgabe der Geschäftsordnung
der Kammer zur Verantwortung gezogen werden“ ). Seit dem Inkrafttreten
des RStG#B. besitzt diese Bestimmung nur noch insoweit Geltung, als es sich
um die disziplinäre Verfolgung eines den Ständen als Mitglied angehörenden
Beamten handelt. Die Frage der strafrechtlichen Verfolgung der Ständemit-
glieder ist durch § 11 RöStGB. nunmehr reichsrechtlich geregelt 5).
c) Um die in den ersten Zeiten des parlamentarischen Lebens unternom-
menen Versuche abzuschneiden, den staatlichen Beamten den Eintritt in die
Ständeversammlung durch Verweigerung des Urlaubs unmöglich zu machen, hat
1) Vql. Jellinek, Allgem. Sto. S. 569.
2) Vgl. Glockner a. a. O. S. 117, der insbes. noch auf die Anerkennung hinweist, welche
das Verbot der Uebernahme eines imperativen Mandates in der Eidesformel des § 69 der Verf.=
Urt. riunen. §5 23. Hier wären auch die reichsrechtl. Bestimmungen über die Einvernahme
der Ständemitglieder als Zeugen und Sachverständige zu erwähnen: 3PO. 8# 382, 402; StrP.
5 49, 72; MSt.GO. § 207, 208.
4) Ueber den Inhalt der bezügl. Gesch. Ordg. Vorschriften s. unten § 26.
5) Dem Schutze der Ständeglieder gegen Beeinträchtigung der Freiheit ihrer Stellung die-
nen auch die Vorschriften der §#§ 105, 106, 339 RStGB. Eine Begünstigung hins. des Dienstes
als Schöffe od. Geschworener gewährt den Ständemitgliedern G G. 87 35 Ziff. 1; 85 Abs. 2.