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sonen anwesend, der Dominikaner Pater Dillon, ein Arzt und ein
potheker, die um die Erlaubnis einkamen, nach 9 Uhr abends noch Ver-
wundete aufsuchen zu dürfen. Während wir ratlos und erschreckt im
Zimmer dasaßen, trat ein höherer deutscher Offizier ein und erklärte,
hier liege offenbar eine Verschwörung vor. Er sei gezwungen, die
schärfsten Gegenmaßregeln zu ergreifen und der Stadt eine hohe Kon-
tribution aufzuerlegen.
Als sich das Schießen gegen Abend gelegt, gingen wir die Rue de
la Station auf und ab, um der Bevölkerung Ruhe zu empfehlen. Pater
Dillon sprach zu der Bevölkerung auf flämisch, der Senator Orbau de
Tiory auf französisch. Dann kehrten wir zum Rathaus zurück und legten
uns zur Ruhe.
i folgenden Morgen führte man uns zum Bahnhof, um uns in
einem Eisenbahnwagen einzuquartieren. Im Wartesaal entwarfen die
deutschen Offiziere eine Proklamation, die in der Stadt verlesen werden
sollte, des Inhalts:
„Wir haben Geiseln von Euch! Wenn noch ein Schuß fällt, er-
schießen wir dieselben. Die Stadt wird gestraft und eine Kontribution
von 20 Millionen Franken eingefordert.“
Mit dieser Proklamation sind wir durch die Stadt gezogen. An 40
bis 50 Stellen hat sie Pater Dillon verlesen; neben uns standen zwei
Offiziere, die Revolver schußbereit auf uns haltend. 20 deutsche In-
fanteristen folgten, und dem Zuge schlossen sich barmherzige Schwestern
an. Frauen, Kinder, Männer standen um uns her, weinend und mit
erhobenen Armen riefen sie jedesmal wieder, sie würden alles tun, um
von uns den Tod abzuwenden.
Als wir an der Ecke der Rue Frédéric Lints die Proklamation ver-
lasen, da wurde doch wiederum auf die Deutschen geschossen. So sind wir
fünf Stunden durch die Straßen gezogen und haben fünf Stunden lang
die Proklamation verlesen. Um 3 Uhr nachmittags kehrten wir über-
müdet zum Bahnhof zurück, wo man uns zu essen gab. Dann bat ich, in
meine Wohnung gehen zu dürfen, da meine Amtszeit abgelaufen war.
In hochherziger Weise bot sich ein deutscher Stabsarzt, Dr. Berghausen
aus Köln, an, mich begleiten zu wollen. Ihm verdanke ich mein Leben.
Wir waren schon auf der Rue Leopold angelangt, da kracht ein Schuß
von Marché au Grain herüber. Sofort legen auf der anderen Seite
deutsche Soldaten auf mich schußbereit an. Da wirft sich mein Begleiter
vor mich, deckt mich mit seinem Leibe, und ich bin gerettet.
Im Dominikanerkloster verbringe ich die Nacht. Am nächsten
Morgen teilte mir die deutsche Behörde mit, daß die Stadt beschossen
werden wird, und läßt mich zum Bahnhof bringen. Ordensleute,
Schwestern, Verwundete, Gefangene besteigen einen Militärzug, der uns
in 20 Stunden nach Aachen bringt. Dem deutschen Arzt, dem ich mein
Leben verdanke, habe ich keinen anderen Dank sagen können, als daß
ich ihm die Hand küßte. Worte reichen in solchen Lebenslagen nicht aus.
(11. September „Deutsche Tagesztg.“.)
Englischer Neutralitätsbruch.
Amsterdam, 9. September (Drahtmeldung.) Das „Handels-
blad“ meldet: Der Dampfer „Zuiderdyk“ von der Holland-Amerika=