Full text: Der Weltkrieg 1914. Band 1. (1)

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ohne daß es möglich gewesen wäre üglich der Absichten der Kaiser- 
* C Ffischen #igrwersen — ln Fhechschten. zu unter- 
scheiden. Uebestreitbar bleibt nur, daß Deutschland sich hier ebenso sehr 
wie in Wien bemüht hat, irgendein Mittel zu finden, um einen allge- 
meinen Konflikt zu vermeiden, daß es dabei aber einerseits auf die feste 
Entschlossenheit des Wiener Kabinetts gestoßen ist, keinen Schritt zurück- 
zuweichen, und andererseits auf das Mißtrauen des Petersburger Kabi- 
netts gegenüber den Versicherungen Oesterreich-Ungarns, daß es nur an 
eine Bestrafung, nicht an eine Besitzergreifung Serbiens denke. 
Herr Ssasonow hat erklärt, daß es für Rußland unmöglich sei, sich 
nicht bereit zu halten und nicht zu mobilisieren, daß aber diese Vorberei- 
tungen nicht gegen Deutschland gerichtet seien. Heute morgen kündet ein 
offizielles Communiqué an die Zeitungen an, daß „die Reservisten in 
einer bestimmten Anzahl von Gouvernements zu den Fahnen gerufen 
sind“. Wer die Zurückhaltung der offiziellen russischen Communiqués 
kennt, kann ruhig behaupten, daß überall mobil gemacht wird. 
Der deutsche Botschafter hat heute morgen erklärt, daß er am Ende 
seiner seit Sonnabend ununterbrochen fortgesetzten Ausgleichsbemühungen 
angelangt sei und daß er kaum noch Hoffnung habe. Wie mir eben mit- 
geteilt wird, hat sich auch der englische Botschafter im gleichen Sinne aus- 
gesprochen. England hat letzthin einen Schiedsspruch vorgeschlagen. Herr 
Ssasonow antwortete: „Wir selbst haben ihn Oesterreich-Ungarn vorge- 
schlagen, es hat den Vorschlag aber zurückgewiesen.“ Auf den Vorschlag 
einer Konferenz hat Deutschland mit dem Vorschlage einer Verständig ung 
zwischen den Kabinetten geantwortet. Man möchte sich wahrhaftig fragen, 
ob nicht alle Welt den Krieg wünscht und nur versucht, die Kriegserklärung 
noch etwas hinauszuschieben, um Zeit zu gewminnen. 
England gab anfänglich zu verstehen, daß es sich nicht in einen 
Konflikr hineinziehen lassen wolle. Sir George Buchanan sprach das 
offen aus. Heute aber ist man in St. Petersburg fest davon überzeugt, 
ja man hat sogar die Zusicherung, daß England Frankreich beistehen 
wird. Dieser Beistand fällt ganz außerordentlich ins Gewicht und hat 
nicht wenig dazu beigetragen, der Kriegspartei Oberwasser zu verschaffen. 
Die russische Regierung hat in den letzten Tagen allen serben-freund- 
lichen und österreichisch-feindlichen Kundgebungen freien Lauf gelassen und 
hat in keiner Weise versucht, sie zu ersticken. In dem Ministerrate, der 
gestern früh stattfand, machten sich noch Meinungsverschiedenheiten geltend; 
die Bekanntgabe der Mobilisierung wurde verschoben, aber seitdem ist ein 
Umschwung eingetreten, die Kriegspartei hat die Oberhand gewonnen 
und heute früh um 4 Uhr wurde die Mobilmachung bekannt gegeben. 
Die Armee, die sich stark fühlt, ist voller Begeisterung und gründet 
große Hoffnungen auf die außerordentlichen Fortschritte, die seit dem japa- 
nischen Kriege gemacht worden sind. Die Marine ist von der Verwirk- 
lichung ihres Erneuerungs= und Reorganisationsplanes noch so weit ent- 
fernt, daß mit ihr wirklich kaum zu rechnen ist. Darin eben liegt der 
Grund, warum die Zusicherung des englischen Beistandes eine so große 
Bedeutung gewann. 
Wie ich die Ehre hatte Ihnen heute zu telegraphieren (T. 10), scheint 
jegliche Hoffnung auf eine friedliche Lösung dahin zu sein. Das ist die 
Ansicht der diplomatischen Kreise. 
 
	        
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