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auf die Vereinigten Staaten haben dürfte. Folglich gestatte ich mir,
einige Worte an euch zu richten, um darauf hinzuweisen, daß es gänzlich
von uns selbst abhängen wird, welchen Einfluß der Krieg auf uns haben
dürfte, und um euch sehr ernstlich zu bitten, Sprache und Verhalten so
einzurichten, wie es das Wohl der Nation am besten bedingt.
Die Wirkung des Krieges auf die Vereinigten Staaten wird von dem
abhängen, was die Bürger sagen und tun werden. Jeder Mensch, der Ame-
rika wirklich liebt, wird stets im wahren Sinne der Neutralität handeln
und sprechen, denn das ist der Geist der Unparteilichkeit, Geradheit und
Freundschaft allen Beteiligten gegenüber. Der Geist der Nation wird in
diesem kritischen Moment hauptsächlich durch das entschieden werden, was
Individuen und die Gesellschaft und die, welche in öffentlichen Versamm-
lungen sich vereinen, sagen und tun werden; auch darauf, was Zeitungen
und Magazine enthalten, was Priester von ihrer Kanzel reden und was
die Menschen auf der Straße als ihre Ansicht aussprechen.
Das Volk der Vereinigten Staaten stammt von vielen Nationen ab,
und namentlich von den Nationen, die in den Krieg verwickelt sind. Es
ist natürlich und unumgänglich, daß unter ihnen die verschiedensten Sym-
pathien herrschen, die verschiedensten Wünsche mit bezug auf den schließ-
lichen Ausgang und auf die Umstände des Konfliktes. Einige werden der
einen Nation, andere der anderen in dem furchtbaren Ringen den Erfolg
wünschen. Es wird ein Leichtes sein, die Leidenschaften zu erregen, und
es wird schwer sein, sie zu besänftigen. Diejenigen, welche verantwortlich
für die Erregung der Leidenschaften sind, werden eine schwere Verant-
wortung auf sich laden. Denn nichts Geringeres, als das Volk der Ver-
einigten Staaten, dessen Liebe für sein Vaterland, und dessen Treue für
seine Regierung sie alle in Ehre und Treue als Amerikaner vereinigen
sollte, das erst an Amerika und amerikanische Interessen denken sollte —
dieses Volk läuft Gefahr, in feindlicher Lager geteilt zu werden, die sich
heiß bekämpfen, wird selbst in den Krieg verwickelt, wenn auch nicht in
der Handlung, so doch im Impuls der aufeinandergeplatzten Meinungen.
Solch eine Spaltung unter uns wäre gefährlich für unsere Seelenruhe und
könnte uns leicht sehr ernsthaft in der Erfüllung unserer Pflichten hinder-
lich sein; — unserer Pflichten als die große Friedensnation, das eine Volk,
das sich bereithält, die Partie der unparteiischen Vermittlung zu spielen
und Friedensratschläge zu erteilen. Und deshalb, meine Mitbürger, glaube
ich ein ernstes Wort der Warnung sprechen zu müssen gegen diesen tiefsten,
subtilsten und bedeutendsten Neutralitätsbruch, der aus Parteilichkeit, aus
leidenschaftlicher Teilnahme entspringen kann.
Die Vereinigten Staaten müssen in diesen Tagen der Seelennot
neutral bleiben; nicht nur im Namen, sondern in der Tat. Wir müssen
unparteiisch sein in Gedanken ebenso wie in unseren Handlungen und
unsere Empfindungen ebenso zügeln, wie unser Benehmen. Wir müässen
alles vermeiden, was aussehen kann, wie die Bevorzugung einer der
kämpfenden Partei vor der anderen.
Meine Gedanken gelten Amerika. Ich bin überzeugt davon, daß ich
die ernsten Wünsche und Absichten eines jeden denkenden Amerikaners
ausspreche, wenn ich sage: möge unser großes Vaterland, welches selbstver-
ständlich unseren Gedanken und unseren Herzen am nächsten steht, sich in
dieser Zeit besonderer Not fähiger als alle anderen erweisen, die Klarheit
des Urteils, die Würde der Selbstbeherrschung und vollkommen leiden-