Full text: Der Weltkrieg 1914. Band 1. (1)

— 59 — 
Anlage 2. 
Der Reichskanzler an die Bundesregierungen. 
Vertraulichl Berlin, den 28. Juli 1914. 
Euer pp. wollen der Regierung, bei der Sie beglaubigt sind, folgende 
Mitteilung machen: 
Angesichts der Tatsachen, die die Oesterreichisch-Ungarische Regierung 
in ihrer Note an die Serbische Regierung bekanntgegeben hat, müssen 
die letzten Zweifel darüber schwinden, daß das Attentat, dem der öster- 
reichisch-ungarische Thronfolger und seine Gemahlin zum Opfer gefallen 
sind, in Serbien zum mindesten mit der Konnivenz von Angehörigen der 
Serbischen Regierung und Armee vorbereitet worden ist. Es ist ein Pro- 
dukt der großserbischen Bestrebungen, die seit einer Reihe von Jahren 
eine Quelle dauernder Beunruhigungen für die Oesterreichisch-Ungarische 
Monarchie und für ganz Europa geworden sind. 
In besonders markanter Form trat der großserbische Chauvinismus 
während der bosnischen Krisis in die Erscheinung. Nur der weitgehenden 
Selbstbeherrschung und Mäßigung der Oesterreichisch-Ungarischen Regie- 
rung und dem energischen Einschreiten der Großmächte war es zuzu- 
schreiben, wenn die Provokationen, welchen Oesterreich-Ungarn in dieser 
Zeit von seiten Serbiens ausgesetzt war, nicht zum Konflikte führten. 
Die Zusicherung künftigen Wohlverhaltens, die die serbische Regierung 
damals gegeben hat, hat sie nicht eingehalten. Unter den Augen, zum 
mindesten unter stillschweigender Duldung des amtlichen Serbiens hat 
die großserbische Propaganda inzwischen fortgesetzt an Ausdehnung und 
Intensität zugenommen. Es würde weder mit der Würde noch mit ihrem 
Recht auf Selbsterhaltung vereinbar sein, wollte die Oesterreichisch- 
Ungarische Regierung dem Treiben jenseits der Grenze noch länger 
tatenlos zusehen, durch das die Sicherheit und die Integrität ihrer Ge- 
biete dauernd bedroht wird. Bei dieser Sachlage müssen das Vorgehen 
sowie die Forderungen der österreichisch-ungarischen Regierung als ge- 
rechtfertigt angesehen werden. „ 
Die Antwort der serbischen Regierung auf die Forderungen, welche 
die Oesterreichisch-Ungarische Regierung am 23. d. M. durch ihren Ver- 
treter in Belgrad hat stellen lassen, läßt indessen erkennen, daß die maß- 
gebenden Faktoren in Serbien nicht gesonnen sind, ihre bisherige Politik 
und agitatorische Tätigkeit aufzugeben. Der Oesterreichisch-Ungarischen 
Regierung wird demnach, will sie nicht auf ihre Stellung als Großmacht 
endgültig Verzicht leisten, nichts anderes übrig bleiben, als ihre Forde- 
rungen durch einen starken Druck und nötigenfalls unter der Ergreifung 
militärischer Maßnahmen durchzusetzen. 
Einzelne russische Stimmen betrachten es als selbstverständliches 
Recht und als die Aufgabe Rußlands, in dem Konflikt zwischen Oester- 
reich-Ungarn und Serbien aktiv für Serbien Partei zu ergreifen. Für 
die aus einem solchen Schritte Rußlands resultierende europäische Kon- 
flagration glaubt die „Nowoje Wremja“ sogar Deutschland verantwort- 
lich machen zu dürfen, sofern es nicht Oesterreich-Ungarn zum Nachgeben 
veranlaßt. Die russische Presse stellt hiermit die Verhältnisse auf den 
Kopf. Nicht Oesterreich-Ungarn hat den Konflikt mit Serbien hervor- 
gerufen, sondern Serbien ist es gewesen, das durch eine skrupellose Be- 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.