Full text: Handbuch des Öffentlichen Rechts. Band III.1.3. Das Staatsrecht des Großherzogtums Baden. (3)

872. Rechtsgiltigkeit von Gesetzen und Verordnungen. 169 
dieses Gesetz von einer der Kammern abgelehnt, so darf die Regierung nicht wieder das 
abgelehnte Gesetz nach der Beendigung des Landtages in provisorischer Weise erlassen. Dies 
wäre eine Kränkung des Zustimmungsrechtes der Landstände und damit eine Verfassungs- 
verletzung, die zur Anklage gegen die Minister Grund gäbe. 
§ 72. IV. Rechtsgiltigkeit von Gesetzen und Verordnungen. Da über die Art, wie 
gewisse Rechtsnormen, Gesetze oder Verordnungen zu Stande zu kommen haben, bestimmte 
Vorschriften bestehen, ist die Möglichkeit gegeben, daß im einzelnen Falle bei der Erlassung 
von Rechtsnormen diese Vorschriften nicht eingehalten worden sind. Die in Folge dessen 
sich aufwerfende Frage, wie sich solchen Rechtssatzungen gegenüber die Landstände, die Staats- 
angehörigen, die Organe der Vollziehung d. i. die Verwaltungsbehörden und die Richter 
zu verhalten haben, ist eine schwierige, vielumstrittene, in Baden nur zum Theil durch positive 
Bestimmungen gelöste#. 
Es wird von folgenden Grundsätzen auszugehen sein: 
I. Seitens der Landstände kann die Behauptung aufgestellt werden: die großherzog- 
liche Regierung habe einseitig einen Gegenstand auf dem Wege der Verordnung geregelt, 
der verfassungsmäßig nur auf dem Wege der Gesetzgebung hätte geordnet werden dürfen. 
In solchem Falle steht ihnen, und zwar der Zweiten Kammer allein, zu, deshalb 
Beschwerde bei dem Großherzog zu erheben, und es sollen „Verordnungen, worinnen Be- 
stimmungen eingeflossen, wodurch sie ihr Zustimmungsrecht für gekränkt erachten, auf ihre 
erhobene gegründete Beschwerde sogleich außer Wirksamkeit gesetzt werden 2). Hieraus er- 
gibt sich: 
1. daß im Allgemeinen die reklamirte Verordnung weder von vornherein unwirksam 
ist, noch unmittelbar durch die erhobene Reklamation unwirksam wird, sondern es einer 
ausdrücklichen Entschließung der großherzoglichen Regierung bedarf, um ihr die Wirksam- 
keit zu benehmen, 
2. daß die großherzogliche Regierung befugt ist, auch ihrerseits die Frage der Be- 
gründetheit der erhobenen Beschwerde zu prüfen. 
Verweigert die großherzogliche Regierung die Außerkraftsetzung der Verordnung, so 
ist es Sache der Kammer, zu erwägen, ob sie den Gegenstand beruhen lassen oder, und 
zwar geeigneten Falles auf dem Wege der Ministeranklage, weiter verfolgen will. 
II. Der einzelne Staatsangehörige ist, wie in § 7 ausgeführt, nur verpflichtet, ver- 
fassungsmäßig erlassenen Gesetzen, Berordnungen oder Anordnungen zu gehorchen. Er kann 
deshalb sölchen Verfügungen, welche er für verfassungsmäßig nicht erachtet, den Gehorsam 
verweigern. Ob er dies mit Recht gethan, das zu beurtheilen ist Sache des Richters — 
einschließlich des Verwaltungsrichters —, an welchen der Gegenstand, sei es in Folge des 
polizeilichen Zwangsverfahrens, sei es auf dem Wege des Strafverfahrens, oder auch des 
bürgerlich-rechtlichen oder des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gelangt. 
Die Frage über das Verhältniß der Einzelnen zu angeblich verfassungswidrigen Ge- 
setzen, Verordnungen oder Anordnungen fällt deshalb mit jener über das richterliche Prü- 
fungsrecht zusammen. 
III. Die Verwaltungsbehörden haben vermöge des Grundsatzes der unbedingten 
Unterordnung jedem Befehl der ihnen vorgesetzten Behörde zu gehorchen, der sich als in 
gesetzlicher Form von der vorgesetzten Behörde ausgegangen darstellt und nicht etwa eine 
offene Gesetzwidrigkeit anordnet. Vgl. § 48. 
) Vgl. Jolly— Eisenlohr, Anm. zu Pol. Str. G. B. 8 24; Behaghel a. a. O. I, S. 28. 
Barazetti a. a. O 
2) V. U. § 67.
	        
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