Full text: Kaiser Wilhelm II. Aus meinem Leben 1859-1888.

Daß mein Vater in politischer Beziehung liberalen Neigungen 
huldigte und bezüglich des Berhältntisses zu den Bundesstaaten uni- 
tarisch gerichtet war, außenpolitisch mehr zu England als zu Rußland 
neigte, ist bekannt, ob diese Einstellung bei längerer Regierung sich 
ausgewirkt hätte, vermag ich nicht abzusehen, glaube es aber nicht. 
Religkös war er tief veranlagt er hat oft meinem Religionsunter- 
richt beigewohnt, auch mich zu den liturgischen Andachten im Dom 
mitgenommen, und ich habe immer beobachten können, daß diese 
Stunden ihm ungemein wohlgetan haben. Er war gegen die anderen 
Konfessionen, der Tradition unseres Hauses entsprechend, in jeder 
Bezkehung tolerant und von großer Achtung für sie erfüllt, er hat 
seine protestantische Uberzeugung gleichwohl niemals verleugnet. 
Mein Vater war persönlich unendlich gütig, ja, fast zart und 
weich zu nennen; er empfand mit allem, was leiden mußte, herz- 
liches Mitgefühl. Er zeigte sich im Verkehr liebenswürdig und 
freundlich, stets zu kleinen Scherzen und harmlosen Aeckereien auf- 
gelegt. Andererseits war er freilich auch recht autoritär veranlagt 
und nicht immer geneigt, Widerspruch ruhig hinzunehmen. Eine 
Ahnung seines grausamen Schicksals scheint ihn schon früh befallen 
zu haben, denn oft qudlten ihn Anwandlungen von Schwermut, von 
„Weltschmerz“, wie er mit lächelndem Selbstspott zu sagen pflegte. 
In solcher Stimmung war es wohl, daß er einstmals in den 7Oer 
Zahren zu Hinzpeter sagte, er würde nicht mehr zur NRegierung 
kommen, die Generation seines Sohnes würde die seine überspringen. 
Mein Lehrer hat mir diesen Ausspruch erst nach dem Tode meines 
Vaters erzählt, aber noch so lange Zeit nach dem Vorfall zitterte 
in ihm das Gefühl der Tragik nach, mit dem ihn jener Ausspruch, 
der zur bitteren Wahrheit geworden war, erfüllt hatte. 
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Eine weit kompliziertere Watur als mein Bater war meine Mutter. 
Sehr klug, sehr scharfsinnig, nicht ohne Sinn für Humor, mit einem 
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