V.
Anfang Mai erholte sich der Katser noch einmal. Noch einmal
konnte er nach seinem lieben Berlin fahren und die Huldigungen
der Bevölkerung entgegennehmen, dann aber ging es unaufhaltsam
bergab. Als am 24. Mai in der Kapelle des Charlottenburger
Schlosses die Trauung meines Bruders Heinrich mit Prinzessin Irene
von Hessen-Darmstadt stattfand, war die Feier, an der auch der
Prinz von Wales teilnahm, ganz beherrscht von der tiefen Wehmut,
die das furchtbar verfallene Aussehen meines Baters bei allen An-
wesenden auslöste. Er ließ es sich trotzdem nicht nehmen, beim Ning-
wechsel sich, auf seinen Stock gestützt, reckenhaft aufzurichten, mußte
dann aber sich sogleich aus der Kapelle entfernen. Ich habe nie wieder
eine Hochzeit wie diese mitgemacht, auf der statt der Freude alle Herzen
Trauer erfüllte. "„
Trot der sich verschlechternden Gesundheit lag mein Vater seinen
Herrscherpflichten mit dem ihm innewohnenden großen Pflichtgefühl
eifrig ob. Täglich arbeitete er, wiewohl unter Schmerzen, mehrere
Stunden lang mit Fürst Bismarck und den beiden Kabinettschefs.
Für die Kaiserliche Marine wollte er eine neue Uniformierung ein-
führen, er beauftragte daher meinen Bruder Heinrich mit der Aus-
arbestung der betreffenden Vorschläge und befahl mich zu dem Schluß-
vortrag, bei dem die Modelle der neuen Uniformen vorgelegt und
von ihm genehmigt wurden. Ich habe sie nach meiner Thronbesteigung
zur Einführung gebracht. Für die Armee ernannte mein Vater eine
Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Exerzierreglements und
einer neuen Felddienstordnung, die den Wegfall des dritten Gliedes,
die Einführung der Kompagniekolonne zu drei Zügen als Grundlage,
die Abschaffung der Lineartaktik und der Bewegungen in der Ba-
tasllonskolonne, statt dessen die Bermehrung der Gefechtsübungen und
die erhöhte Ausbildung im zerstreuten Gefecht gebracht hat. Nach
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