Full text: Erinnerungen an die Kriegsjahre im Königlich Preußischen Kriegsministerium. Erster Band. Der Weg zur Revolution 1914-1918. (1)

2 Erstes Kapitel 
über alle Parteigegensätze hinweg sich bewußt wurden, Söhne eines 
Landes, Angehörige eines Stammes zu sein. Wilhelm II. aber war 
es vergönnt, jetzt den Höhepunkt im Dasein eines Fürsten zu erleben: 
Das Volk empfand ihn, den Kaiser, als die Verkörperung seiner selbst, 
und nicht endenwollender Jubel lohnte ihm, als er den ihm entgegen- 
gebrachten Huldigungen antwortete: „Ich kenne keine Parteien und 
keine Konfessionen mehr; ich kenne nur Deutsche.“ 
Dem Fühlen des Volkes aber gab Martin Hildebrandt Ausdruck 
in seinem prachtvollen Sturmlied: 
Der 31. Juli 1914. 
Der deutsche Zorn ist jäh erwacht Und wie von einer Zauberhand 
ob einer Welt voll Niedertracht sind ausgeglichen Rang und Seand 
voll Hinterlist und Tücke; kein Sondern mehr und Gliedern. 
er brennt auf jeder deutschen Stirn, Ein Staunen schreitet durch die Weit, 
er wühlt in jedem deutschen Hirn in Wehr und Waffen zieht ins Feld 
und sprüht aus jedem Blicke. ein einig Volk von Brüdern. 
Und jeder kennt nur einen Schwur, 
und keinem zeigt sich eine Spur 
der Furcht vor dem Erliegen. 
Wir geben unser Letztes her, 
und wärt ihr zahllos, wie am Meer 
der Sand, wir müssen siegen. 
Ganz Deutschland schien nicht nur, es war geeinigt; gesellte sich 
zu dieser Begeisterung harte und zähe Entschlossenheit, und der uner- 
schütterliche Wille, unter dem Zeichen des Burgfriedens, alle inneren 
Streitigkeiten beiseite zu lassen, solange der Feind an die Tore des 
Reiches schlug, so konnte der Sieg nicht zweifelhaft sein. 
Wie aber sah es mit diesem Willen aus, wie stellte sich hierzu 
vor allem die Partei der Massen, die Sozialdemokratie? 
Die Begeisterung dieser Tage hatte weite Kreise der Sozialdemo- 
kratie ergriffen und die bisherige Gesinnung der auf sie eingeschworenen 
Arbeiterschaft stark erschüttert. Im großen und ganzen hielt diese 
Stimmung während des Jahres 1914 an. Die gemeinsame Not des 
Vaterlandes hatte das durch den Klassenkampf ausgelöschte Gefühl 
der Zusammengehörigkeit neu erweckt; die unvergleichlichen Leistungen 
des Heeres und der ganzen staatlichen Organisation hatten selbst den 
beschränktesten Verächtern dieser Institutionen vor Augen geführt, 
was unser Volk an ihnen besaß. Der monarchische Gedanke bewies
	        
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