116 Elftes Kapitel
Die größten Hindernisse türmten sich auf bei der Einbringung
der Wahlrechtsreform. Nachdem aber einmal der König und die Re-
gierung dafür eingetreten waren, mußten diese Hindernisse rücksichts-
los beseitigt werden, wenn nicht anders, so durch Auflösung des Land-
tags und Neuwahl. Die Männer der Regierung Hertling waren jedoch
alles, nur keine Kraftnaturen. Immerhin durfte zu dieser ultima ratio
erst im letzten Augenblick gegriffen werden. Die Regierung konnte es
nicht darauf ankommen lassen, die in ihrer Treue zu König und Staat
altbewährten konservativen Kreise der Bevölkerung einer so starken
Belastungsprobe auczusetzen, ehe sie nicht das Menschenmögliche
versucht hatte, auf gütlichem Wege die Zustimmung der Volks-
vertretung zu der nun einmal erforderlich gewordenen Neuordnung zu
erlangen.
Hätte die Sozialdemokratie oder wenigstens ein Teil ihrer Führer
und Presse für Staatsnotwendigkbeiten Verständnis gehabt, so mußte sie,
nachdem das bindende Versprechen der Krone zur Wahlrechtsreform
vorlag, in diesen ungeheuer gespannten Wochen und Monaten von ihrem
Drängen ablassen, um die Geschlossenheit im Innern nicht zu gefährden
und die Regierung zu stärken. Die Partei stand ihr auch diesmal über
dem Vaterland.
Die neue Phase der deutschen Offensive im Westen — zwischen
Reimo und Laon — wurde in der sozialdemokratischen Presse nicht
mit derselben Genugtuung aufgenommen wie ihr Beginn. Vorteilhaft
hoben sich, wie gewöhnlich, die „Chemnitzer Volkostimme“ und die
„J. K.“ hervor. Nachdrücklich wies das Chemnitzer Blatt (27., 28., und
29. Mai) darauf hin, daß die Art Frieden, von der die englischen und
französischen Staatsmänner sprächen, für Deutschland undiskutabel
sei. Während Graf Hertling versichert habe, von deutscher amtlicher
Seite sei niemals geäußert worden, man wolle Belgien behalten, denke
sich Lioyd George den ehrenvollen Frieden so, daß englisch bliebe, was
an deutschem Kolonialgebiet und an türkischem Land im Kriege erobert
worden sei; nie habe ein englischer Staatsmann das Gegenteil auch
nur angedeutet. So müsse denn das deutsche Volk weiter jeden Nero
anspannen. „Die Selbsterhaltungspflicht gebietet Deutschland, den Ver-
such zu machen, die Feinde so empfindlich zu schlagen, daß sie möglichst
bald zum Frieden geneigt sind.“ Nur so werde es gelingen, noch in
diesem Jahre zu Friedensverhandlungen zu kommen; auf die Volks-