Wiedererwachen der sozialdemokratischen Opposition 0
weshalb nicht sofort mit scharfen Mitteln, zu deren Anwendung das
Belagerungsgesetz die Möglichkeit bot, vorgegangen wurde. Ee bleiben
dabei zwei Punkte zu berücksichtigen: Eimmal waren in allen, dem
Kriegsministerium bekanntgewordenen Fällen die verdächtigen Genossen
mit solcher Vorsicht zu Werke gegangen, daß es sehr schwer erschien,
ihre schädigende Tätigkeit unter das Strafgesetz zu bringen. Der Aus-
gang eines Strafverfahrens war fast immer unsicher. Anstatt die
Führer der allgemeinen Verachtung zu überliefern, hätte man sie
leicht zu Märtyrern des sozialistischen Gedankens machen können.
Dem durfte man sich nicht aussetzen. Andererseits mußte jedes Vor-
gehen von seiten der Militärbefehlshaber durch Zensur oder auf Grund
des Belagerungegesetzes, das so dargestellt werden konnte, als richte
es sich gegen die sozialdemokratische Partei als solche, vermieden wer-
den oder wenigstens mit großer Vorsicht erfolgen, solange die Reichs-
regierung nicht den staats= und gesellschaftsfeindlichen Bestrebungen
der Sozialdemokratie eine klare Absage erteilt hatte. Dies war leider
bisher nicht geschehen. Bereits begann die Unterlassungssünde der
Regierung aus den ersten Kriegsmonaten sich zu rächen: die Sozial-
demokratie fing an, wieder eine Macht zu werden, sich auf ihre alten
internationalen Grundsätze zu besinnen und für diese — teils mehr,
teils minder vorsichtig — zu werben. Und der Reichskanzler begnügte
sich im wesentlichen damit, „die innere Entwicklung der Sozialdemo-=
kratie aufmerksam zu verfolgen.“ Jetzt war vielleicht der letzte Augen-
blick, wo der beginnende Krankheitsprozeß noch unterdrückt werden
konnte. Vorbedingung hierfür war aber das Vorhandensein eines weit-
schauenden und vor allem tatkräftigen Mannes, der wußte, was er
wollte. Entweder lenkte die Sozialdemokratie ein, schied sich von den
radikalen Ubersozialisten, oder die Regierung mußte den Kampf mit
ihr aufnehmen. Hierbei konnte sie sich auf den überwiegend großen,
nationaldenkenden Teil des ganzen Volkes stützen, das die Hohlheit
des Geredes von internationaler Solidarität jetzt am eigenen Leibe
verspürte und geradezu danach lechzte, anfeuernde, sein Deutschtum
rühmende und stärkende Worte von dem berufenen Lenker seiner poli-
tischen Geschicke zu hören. Immer und immer wieder mußte von dieser
weit sicht= und hörbaren Stelle aus, mußte von allen Ministern im
Reiche das so schwach entwickelte, laue, deutsche Nationalgefühl ge-
nährt, hochgerissen, angefeuert werden. Jetzt bereits war es nötig,