24 Zweites Kapitel
volle Utopie war, wenn man geglaubt hatte, unbedenklich die tausend
und abertausend althergebrachten natürlichen Beziehungen zwischen Er-
zeuger und Verbraucher, zwischen Uberschuß= und Bedarfsgebieten zer-
stören, ja sogar den Kleinhandel erschlagen zu können, um an dessen
Stelle die bureaukratische, öffentliche Versorgung durch Stadtverwal-
tungen, Syndikate und dergleichen zu setzen in dem Wahn, mit dem
Beamtentum alles leisten zu können. Als Spitze dieser Organisation
wurde im Mai 1916 das Kriegsernährungsamt geschaffen. Warnungen
hervorragender Männer des Wirtschaftslebens, wie des Generalland-
schaftsdirektors Kapp, wurden in den Wind geschlagen; die „Neu-
orientierung“ der Regierung ging stetig nach links.
War es ein Wunder, wenn die Treibereien der „Unabhängigen“ bei den
durch das Teuerungsgeschrei erhitzten Massen ein williges Gehör fanden?
Einen breiten Raum in der sozialdemokratischen Presse nahm die
Erörterung über die Wahlreform ein. Ihre Ankündigung in der Thron-
rede hatte, besonders nachdem vorzeitig Mitteilungen darüber in die
Presse gedrungen waren, in der Arbeiterschaft hier und da infolge
der als unklar empfundenen Ausdrucksweise zunächst ein wenig ent-
täuscht. An eine genaue Umschreibung der Jiele der Reform hatten
im Ernste wohl wenige geglaubt, ebenso kam die Vertröstung auf den
Frieden nicht überraschend; aber in der Form der Ankündigung ver-
mißte man das volkstümliche Gepräge. Immerhin war man im all-
gemeinen befriedigt; die rechtsstehende sozialdemokratische Presse warnte
die Massen ausdrücklich vor einer Unterschätzung des Versprechens der
Thronrede. So sagte zum Beispiel die „Chemnitzer Volksstimme"“,
daß, wer an dem guten Willen von Kanzler und Kaiser zweifele,
nach dem Friedensschluß eine den Wünschen der breiten Volkemassen
entgegenkommende Politik einzuschlagen, dies wider besseres Wissen
tue; die Verwirklichung der guten Absicht hinge aber von vielen Macht-
faktoren ab; vor allem auch von der Geschlossenheit der Arbeiter-
organisationen und der Vernunft der sozialdemokratischen Taktik.
Zum Zwecke der einheitlichen Organisierung der preußischen Wahl-
rechtsbewegung hatte die Partei eine besondere Körperschaft, die preu-
ßische Landeskommission, ins Leben gerufen.
Es bedarf kaum der Erwähnung, daß auch in dieser politischen
Frage die Minderheitsfraktion schärfste Opposition mit allen Mitteln
der Verhetzung trieb.