174 Robert Wuttke: Stand und Wachstum.
reicht haben, ehe sie zur Erkenntnis ihrer Stammesart oder des Gegensatzes
zu anderen Völkern kamen.
Einen ähnlichen Vorgang können wir beim Kind beobachten, das zu-
nächst sich nicht als Ich fühlt und erst allmählich zum Bewußtsein seiner
eigenen Persönlichkeit erwacht.
Noch während des Mittelalters sehen wir, wie die verschiedenen euro-
päischen Nationen sich als Glieder einer Familie fühlen, die völkerverbindende
Kraft der katholischen Kirche umschließt sie; die Religion — für breite
Volksschichten nicht nur die höchste, sondern auch die einzige geistige
Nahrung —, faßt alle Völker zusammen. Mit der Einführung der Reformation
geht dies einigende Band verloren. In dem Empfindungs= und Gefühlsleben
der Völker vollzieht sich eine große Scheidung und sie werden nun bis in die
Gegenwart hinein sich mehr und mehr des Trennenden als des Vereinenden
bewußt.
Es handelt sich aber bei dieser Entwickelung zu einer scharf begrenzten,
mit gewissen Fehlern und Tugenden ausgestatteten Persönlichkeit nicht nur um
Völker, z. B. um Franzosen und Deutsche, um Engländer und Russen, sondern
auch um Volksstämme. Besonders auffällig läßt sich diese Erscheinung an
uns Deutschen verfolgen. Jeder deutsche Stamm hat sein Sonderleben ge-
führt und zeigt seine Eigenart, deren Untersuchung sicherlich die wichtigste
Aufgabe ist, die eine deutsche Volkskunde zu lösen hat.
Einer der reizvollsten Vorgänge ist es, wenn man sich in das Volks-
leben versenken will, sofort an den Außerlichkeiten der Sprache, an dem Ge-
bahren und der Sinnesweise jedem Deutschen sein engeres Mutterland an-
zuweisen. Nirgends wird so sichtbar der Einzelne uns als ein Teil eines
Ganzen erscheinen, deutlich können wir den Fäden nachgehen, die das Indi-
viduum mit dem Volke verbinden. ·
Worin bestehen nun die Eigenarten der deutschen Stämme und wann
haben die Unterschiede sich zu entwickeln begonnen?
Frühzeitig hat hier die Forschung eingesetzt und versucht die Art von
der Gattung zu scheiden, das Gemeinsame und Trennende festzustellen. So
an der Sprache; wie sind wir zu einer gemeinsamen deutschen Sprache ge-
kommen, wie stellen sich zu ihr die Mundarten, wie beeinflußt eins das
andere? Und was für die Sprache gilt, läßt sich auch von Sitte und Brauch,
von Glaube und Aberglaube u. s. w. sagen.
Aus allen diesen Teilen setzt sich der Charakter eines Volkes fest, oder
richtiger gesagt, er spiegelt sich in ihnen wieder.
Wenn wir unseren Blick von dieser allgemeinen Betrachtung nun wieder
auf das sächsische Volk werfen, so werden wir finden, daß wir während des
Mittelalters von einem Charakter des sächsischen Volkes nicht sprechen
können. Es fehlte an jeglicher Einheitlichkeit der Bevölkerung und erst nach-