Robert Wuttte: Stand und Wachstum. 175
dem die verschiedenartigen Teile, aus denen der sächsische Stamm zusammen-
gesetzt ist, in einander verschmolzen waren, kann man von einem sächsischen
Stammesbewußtsein sprechen. Dies geschah aber erst gegen Ausgang des
Mittelalters.
Die deutschen Ritter und Herren und neben ihnen die Kirche, drangen
erobernd in die slawischen Lande, sie beherrschten schließlich ein von Sorben
bewohntes und von diesen beackertes Land. Im Laufe des 12. und 13. Jahr-
hunderts änderte sich dies Verhältnis. Deutsche Bauern wanderten in das Land
ein und besiedelten es; an vielen Orten verdrängten sie die Slawen aus ihrem
Besitz, an anderen suchten sie das von jenen übrig gelassene Land sich urbar
zu machen. Seit der Besiedelung standen sich auf dem platten Lande Sorben
und Germanen gegenüber. Die eingewanderten Deutschen gehörten aber nicht
einem Volksstamm ausschließlich an; aus allen Gauen Deutschlands, aus
Bayern und Franken, aus Thüringen und vom Rhein, ja selbst aus dem
stammverwandten Holland strömten sie nach Sachsen, und sie alle brachten
ein Stück ihrer Heimat an Sitte und Brauch, an Sprache und Dichtung
mit in die neuen Lande. Die Ansiedelung erfolgte nun nicht in der Weise,
daß einzelne Gegenden Sachsens diesem oder jenem deutschen Stamm zuge-
wiesen wurden, sondern sie vollzog sich ähnlich wie wir es heute in Amerika
sehen; neben und durcheinander siedelten sich die Einwanderer an. Ein Dorf
war von fränkischen, das nächste vielleicht von allemanischen Bauern bewohnt,
daneben lag ein noch von Sorben bevölkerter Weiler.
Außer der rein bäuerlichen Einwanderung finden wir einen zweiten
Zustrom. Die im Erzgebirge entdeckten Bodenschätze lockten Erz= und Berg-
arbeiter aus allen Teilen Deutschlands herbei und diese Arbeiterbevölkerung
verlieh dem Erzgebirge stets ein besonderes Gepräge, und als später der
Bergbau allmählich zurückging, stellte sie die Arbeitskräfte für die Industrie
und trug wesentlich dazu bei, Sachsen zum ersten Industrieland Deutsch-
lands zu erheben.
Bis in das 15. Jahrhundert standen sich, wie die Urkunden aus dieser
Zeit beweisen, die unterworfene slawische und die herrschende germanische Be-
völkerung schroff gegenüber. Im 14. Jahrhundert war noch in den meisten
Gerichten wendisch mit deutsch abwechselnd gesprochen worden, in Leipzig und
Zwickau hörte seit 1327, in Meißen seit 1424 die wendische Gerichtssprache
auf; ein deutliches Zeichen des Zerfalles des sorbischen Volkstums.
Völlig unaufgeklärt ist es, wie im Laufe des 15. Jahrhunderts in ver-
hältnismäßig kurzer Zeit, ohne kriegerische Einwirkung, nur im friedlichen
Nebeneinanderleben, die Reste der eingesessenen slawischen Bevölkerung von
der deutschen aufgesogen wurden und so in den sächsischen Erblanden aus
der Mischung beider Völker sich der sächsische Volksstamm entwickelte: ein
geistiger und körperlicher Prozeß, über den uns alle Nachrichten fehlen; denn