Full text: Sächsische Volkskunde.

208 Robert Wuttke: Stand und Wachstum. 
vermag. Das eigentliche Absatzgebiet der Industrie liegt außerhalb Sachsens, 
für viele Waren außerhalb Deutschlands. Sahen wir früher die Bevölkerung 
in enger Wechselbeziehung zu Grund und Boden, konnte sie über diese 
natürlich gegebenen Schranken ohne große Schädigung nicht hinauswachsen, 
so sehen wir jetzt das gerade Gegenteil, der Boden bietet nicht mehr den 
Nahrungsspielraum für die seßhafte Bevölkerung, er bietet nur noch den 
bloßen Wohnsitz. Daraus ergiebt sich für unsere neuere Volkswirtschaft eine 
überaus wichtige Folgerung. Zu dem Staatsgebiet treten noch zwei 
außerstaatliche Gebiete hinzu; eines, das die landwirtschaftlichen Erzeug- 
nisse zur Ergänzung der einheimischen Landwirtschaft liefert, ein anderes, 
das die industriellen und gewerblichen Waren aufnimmt. Während sich 
früher Staatsgebiet mit Wirtschaftsgebiet so ziemlich deckte, fallen sie jetzt 
auseinander. 
Das auswärtige landwirtschaftliche Land, dessen Sachsen bedarf, muß 
relativ dünn bevölkert sein: es muß über das Bedürfnis seiner heimischen 
Bevölkerung hinaus produzieren. Sachsen lebt von dem Überschuß der 
dortigen nationalen Produktion. Die Naturfläche, die unsere Bevölkerung 
braucht, ist folglich viel größer als unser Staatsgebiet; würde man sie — 
was freilich nicht möglich ist — diesem zuzählen können, so erhielte man 
erst die richtige Ziffer für die Bevölkerungsdichtigkeit. 
Unsere Industrie ist heute auf den Absatz von Massenartikeln angewiesen, 
sie muß die ausländischen Märkte aufsuchen und überall in der Welt Ver- 
bindungen unterhalten. Dies hat zur Folge, daß sie keinen geschlossenen 
nationalen Markt mehr kennt, daß sie stets im Wettkampf mit anderen 
Industriestaaten arbeitet. Die fremden Märkte, die uns jetzt Zugang gewähren, 
können uns aber geschlossen werden; das Gedeihen und Blühen der sächsischen 
Industrie und mit ihr einer wachsenden Zahl von Menschen, hängt nicht 
allein von der nationalen Wirtschafts= und Handelspolitik, sondern in 
noch viel höherem Grade von der des Auslandes ab. Werden dort für 
unser Wirtschaftsleben schädliche Maßnahmen getroffen, so verliert ein Teil 
der sächsischen Bevölkerung die Grundlagen seiner Existenz. Auch diese 
Folgeerscheinungen der steten Verdichtung der Bevölkerung muß man 
berücksichtigen. 
Unser Jahrhundert ist von den Erfindungen der Technik voll, sie sind 
sichtbar, greisbar; aber auch die Volkswirtschaft hat nicht stille gestanden, 
sie hat die alten Formen abgestreift und neue ausgebildet. Wenn man die 
Erfolge der neueren Wirtschaft mit der des vorigen Jahrhunderts vergleicht, 
und wenn man sich ferner vergegenwärtigt, auf wie künstlicher Grund- 
lage — einem Staatsgebiet, einem ausländischen Nähr= und einem Absatz- 
gebiet — sie sich aufbauen muß, und daß trotzdem Sachsen seine Anziehungs- 
kraft bewahrt hat, daß Tausende es jährlich aufsuchen, um sich eine neue
	        
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