Full text: Sächsische Volkskunde.

Robert Wuttke: Stand und Wachstum. 209 
Heimat zu gründen, und daß sein Volkswohlstand stetig steigt, so wird man 
zugeben müssen, daß die neuere Wirtschaft Fortschritte aufzuweisen hat, die 
denen der Technik nicht nachstehen. 
Mit dem Eintritte Sachsens in den Norddeutschen Bund kann man den 
Beginn einer neuen Periode seiner Bevölkerungsgeschichte rechnen. Alle volks- 
kundliche Überlieferung, wie sie sich in den letzten Jahrhunderten entwickelt 
hatte, verfällt rücksichtslos der Vernichtung; mit der Sitte und dem Brauch 
wird ausgeräumt, die Mundart wird verspottet, die altväterliche Tracht ins 
Lächerliche gezogen. Die Anfänge dieser Bewegung lassen sich über ein 
Menschenalter zurück verfolgen; mit voller Wucht setzt dieser Auflösungs- 
prozeß aber erst Ende der 60 er Jahre ein. Die Verbesserung des Verkehrs- 
wesens und die Aufhebung aller die Freizügigkeit hemmenden Schranken lösen 
den Einzelnen vom Heimatsboden und führen zu einer früher nie gekannten 
Beweglichkeit großer Volksmassen. Für Sachsen spielen sich jetzt ähnliche 
Vorgänge ab, wie wir sie während des Mittelalters beobachten konnten. 
Damals wanderten aus allen deutschen Gauen Kolonisten ein, allmählich 
verschmolzen sie mit der einheimischen Bevölkerung zu einem Ganzen; jetzt 
eine stille friedliche Einwanderung, die aber nicht minder mächtig ist und 
auf die Dauer die sächsische Volksart umwandeln muß. 
Die Richtung, die wir jetzt eingeschlagen haben, gilt nicht der Ent- 
wickelung des einzelnen deutschen Volksstammes, sondern der eines einheitlichen 
deutschen Volkscharakters. Der Trennung der deutschen Staaten, wie wir 
sie während mehrerer Jahrhunderte verfolgen konnten, steht jetzt die Einigung 
gegenüber. Der Schwerpunkt deutschen Wesens ist aus dem Volksteil in 
das Volksganze gerückt. Die Sprache schleift sich ab, die Umgangsformen 
nehmen eine gleichmäßigere Färbung an, die bezeichnenden Eigentümlichkeiten 
verwischen sich; nicht lange wird es mehr dauern, daß die lebendige, volks- 
kundliche ÜUberlieferung erlischt und der Bruch der Vergangeuheit mit der 
Gegenwart endgültig ist. Noch ist diese Einigung und die Besiegung des 
Sonderlebens nicht vollendet, aber unsere ganze Politik, Kultur und unser 
Wirtschaftsleben arbeiten unablässig darauf hin. 
Wuttke, sächsische Volkskunde. 2. Aufl. 14
	        
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