Full text: Sächsische Volkskunde.

238 Robert Wuttke: Verbrechen und Selbstmord. 
Ein trauriges Bild geistiger und moralischer Zerrüttung bietet uns der 
Selbstmord; wir betreten hier ein dunkles Gebiet. Soweit man nach den 
überlieferten Quellen urteilen kann, kamen in Deutschland bis nach dem 
30 jährigen Kriege Selbstmorde selten vor, dagegen zeigt sich im 18. Jahr- 
hundert eine auffallende Zunahme und im 19. Jahrhundert, in dem sich die 
wirtschaftliche und soziale Lage breiter Volksschichten wesentlich gebessert hat, 
kann man den Selbstmord unter die Massenerscheinungen rechnen. 
Das Mittelalter faßte den Selbstmord als ein strafbares Vergehen auf, 
da sich aber der Selbstmörder der irdischen Gerechtigkeit entzog, so erklärte 
man wenigstens sein Testament für ungültig, zog seine nachgelassene Habe 
ein und begrub ihn selbst wie einen Hund unter den Galgen. Erst gegen 
Ausgang des 16. Jahrhunderts machte sich eine mildere Auffassung geltend; 
die Vermögenseinziehung wurde als unbillig gegen die Anverwandten ver- 
worfen, auch die in manchen Gegenden Deutschlands angemaßten Rechte des 
Henkers an dem Nachlaß eingeschränkt. Allmählich begannen die kirchlichen 
Oberbehörden zu unterscheiden, ob ein Selbstmord aus Melancholie oder 
Unsinnigkeit, wie es damals hieß, begangen war, oder aus Furcht vor Strafe: 
während man im letzteren Fall zu einer strengen Beurteilung neigte, ließ 
man im ersteren Milde gelten und den Selbstmörder unter Aberkennung 
gewisser kirchlicher Ehrenrechte auf dem Friedhof beerdigen. 
Im 18. Jahrhundert kam in Sachsen der Selbstmord schon sehr häufig 
vor. In zahlreichen Mandaten, Verordnungen — 1705, 1719, 1747, 1779 — 
suchte die Regierung Stellung zu nehmen; sie regelt das Verfahren bei der 
Beerdigung; sie entschied, wenn das Konsistorium wenn die Rechtsbehörden 
zuständig waren und schließlich versuchte sie durch allerlei Maßnahmen die 
entstehende Selbstmordepidemie einzuschränken. 
Ein lebensvolles Bild der Zustände in Sachsen erhalten wir durch die 
Briefe des Italieners Bianconi. Er schrieb 1762 aus Dresden nach 
Italien: „ein Übel herrscht in Sachsen, welches niemals hat ausgerottet 
werden können; ich will sagen, die Raserei des Selbstmordes. Diese traurige 
Narrheit ist hier vielleicht ebenso häufig wie in London. Soviel ist gewiß, 
daß es hier Leute giebt, die sich leicht das Leben nehmen und bin ich oft 
Zeuge davon gewesen.“ Er hält eine melancholische Sucht und Tiefsinnigkeit 
für die Ursache dieser „Gemütskrankheit“ (malattia dello spirito) und glaubt, 
daß die Sachsen besonders dazu neigen, denn er urteilt: „der Sachse hat 
überaus heftige Leidenschaften und Begierden und da er mehr zum Still- 
schweigen und Nachdenken neigt als andere Nationen, so wird er auch viel 
eher einer tiefen Traurigkeit zur Beute. So mußte in der That diejenige 
Nation beschaffen sein, die einen Mann — er scheut sich den Namen Luthers
	        
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