256 Hermann Dunger: Volksdichtung in Sachsen.
Bisweilen wird ein Bild aus der Natur sofort auf eine Person über-
tragen. Die Geliebte heißt: Du herzigstrauts Schatzel, du Haselnußkern
oder du Himmelschlüssel; sie wird als „liebe Sunneblumme“ (Sonnenblume)
angeredet. Überhaupt finden wir im Volkslied ähnlich wie bei Homer
stehende Beiwörter. Die Angebetete ist das Feinsliebchen, allerschönst
Schätzel, herzallerliebster Schatz, herztausiger Schatz, das schwarzbraune
Mädel, herzigtrauts Engellein, ja sogar ein rosenroter Engel. So kann
man in gewissem Sinne von einem Stile des Volkslieds sprechen, der
keineswegs, wie Berger behauptet, mit dem Stile des mündlichen Vortrags
zusammenfällt.
Alle diese Eigentümlichkeiten muß man ins Auge fassen, wenn man
beurteilen will, ob ein vom Volke gesungenes Lied als Volkslied anzusehen
ist. Es liegt auf der Hand, daß dies in vielen Fällen gar nicht leicht ist,
daß der Sammler leicht einen Fehlgriff machen kann.
Gehen wir nun zu den Fragen über: Wo finden wir noch in Sachsen
lebendigen Volksgesang? Bei welchen Gelegenheiten werden Volks-
lieder gesungen? Wer sind die Sänger? Wie hat man bei dem Sammeln
solcher Überlieferungen zu verfahren?
Wirklich lebendig ist der Volksgesang bei uns in der Hauptsache nur
noch auf dem Lande. In kleineren Städten ist zwar auch noch manches
anzutreffen, sogar in größeren Städten, aber das sind nur vereinzelte Reste.
Auch auf dem Lande findet das Volkslied nicht überall gleiche Pflege, im
Gebirge mehr als im Flachland. Wo lebhafter Verkehr besteht, wo Handel
und Gewerbfleiß blüht, wo die Schulen und die Gesangvereine ihren Einfluß
geltend machen, da verstummt mehr und mehr der Volksgesang. Die Kultur
steht auch hier der Natur feindlich gegenüber. Indessen auch in solchen
Gegenden, die noch nicht sonderlich von der Kultur beleckt sind, muß man
die richtigen Gelegenheiten aufsuchen, wenn man diese Seite des Volks-
lebens beobachten will. Man darf sich ja nicht einbilden, man brauche nur
auf das Land zu gehen, um sofort Volkslieder zu hören. Das Singen ist
der Ausdruck einer gewissen inneren Stimmung, mag diese ernst oder fröhlich
sein. Ist sie nicht vorhanden, so giebt es auch keinen Gesang. Wie die
Vögel in Wald und Flur nicht das ganze Jahr hindurch singen, sondern
nur in der Minnezeit des Lenzes, so sind auch die Menschen hauptsächlich
in der Frühlingszeit ihres Lebens zum Singen aufgelegt.
Kommt der heiße Sommer mit des Lebens Mühen und Arbeiten mit
den Sorgen in der Familie, dann verstummt unwillkürlich der Gesang.
Wos soll m’ dee nier singe,
Wemm' nischt meh ka —
E Stub vull klane Kinw'r,
Dirzu enn alt'n Ma. (A. Müller, Erzgeb. Volksl. S. 163.)