258 Hermann Dunger: Bolksdichtung in Sachsen.
ein gutgeleiteter Gesangverein durch Wiederbelebung des Volksgesanges sich
sehr verdient machen.
Wenn ich oben gesagt habe, daß in den Städten kein lebendiger Volks-
gesang mehr zu finden sei, so folgt daraus nicht, daß man in den Städten
überhaupt keine Gelegenheit habe Volkslieder zu sammeln. Auch hier bietet
sich die Möglichkeit dazu bei Leuten, die aus dem Dorfe in die Stadt
gekommen sind, namentlich bei Soldaten und Dienstmädchen. Bekannt-
lich wird bei den Soldaten der Gesang von den Vorgesetzten besonders
begünstigt — gewiß mit Recht. Denn es marschiert sich noch einmal so gut,
wenn muntere Volksweisen taktmäßig erklingen, der frische Gesang wirkt
belebend auf die ermattenden Glieder. Und die Soldaten sind auch sanges-
lustig; es sind ja alles gesunde, lebensfrohe, jugendfrische Menschen. Sie
kommen aus verschiebenen Gegenden des Landes, jeder bringt aus seiner
Heimat gewisse Lieder mit, die sie sich gegenseitig mitteilen, und an Gelegen-
heit zum Singen fehlt es ihnen weder auf dem Marsche noch in der Kaserne
und bei sonstigen Zusammenkünften. Die Soldaten sind auch mitteilsam.
Wenn man bei einem Glas Bier dafür sorgt, daß die sangeslustigen Kehlen
auch in der nötigen Feuchtigkeit gehalten werden, so kann man leicht alles
hören, was sie können. Man kann auch nicht selten geschriebene Liederbücher
von ihnen erhalten. Freilich darf man nicht alle Lieder, die sie singen
und aufschreiben, als Volkslieder betrachten. Hier gilt es, mit Vorsicht und
strenger Wahl erst jedes einzelne Stück zu prüfen.
Eine zweite Liederquelle in den Städten sind die Dienstmädchen vom
Lande. Auch sie sind meist jung und sangeslustig, manche von ihnen
gebieten über einen geradezu erstaunlichen Liederschatz. Bei ihnen macht sich
der Einfluß der Kunstlieder weniger geltend als bei den Soldaten, weil sie
weniger mit anderen zusammen kommen. Dagegen ist es schwerer, sie zum
Singen ihrer Lieder zu bewegen. Den „feinen Leuten", den „Herrschaften“
gegenüber scheuen sie sich, ihre einfachen Lieder zu singen. Hat man sie
aber einmal so weit, daß sie diese Scheu ablegen, dann kann man bei ihnen
reiche Ernte halten. Bei meinem Volkslieder-Sammeln im Vogtland habe ich
gerade durch solche Mädchen viele schätzbare Beiträge erhalten. Einer meiner
früheren Lehrer am Gymnasium in Plauen i. V., ein für deutsche Dichtung
begeisterter Mann, richtete, nachdem ich in meiner Vaterstadt einen Vortrag
über Dialekt und Volkslied des Vogtlands") gehalten hatte, ganz erstaunt an
mich die Frage, wie ich denn zu den vielen Volksliedern gekommen wäre; er
sei doch schon seit langer Zeit im Vogtland, aber er habe noch keine gehört.
Ich konnte ihm erwidern, daß auch in diesem Falle, wie oft, das Gute
so nahe liege; denn eine meiner besten Quellen sei — das Dienstmädchen,
*) Im Druck erschlenen in Plauen i. V. bei Neupert 1870.