Hermann Dunger: Volksdichtung in Sachsen. 259
das bei ihm selbst in Diensten stehe. Durch die Kinder meines alten Lehrers,
der neben dem Hause meiner Eltern wohnte, hatte ich erfahren, daß das
Mädchen sehr liederkundig sei, und es gelang mir auch nach einiger Mühe,
sie zum Singen zu bringen. Dem würdigen alten Professor hatte sie
natürlich nichts vorgesungen.
Das Vertrauen der Singenden zu gewinnen ist eine Hauptschwierigkeit
bei dem Sammeln von Volksliedern. Diese Lieder bilden eben ein Stück
ihres Gemütslebens. Hat man sie aber einmal soweit, so tritt man ihnen
unwillkürlich näher, man ist kein Fremder mehr für sie; es ist, als ob sie
uns ihr Herz geöffnet hätten. Erschwerend ist das Mißtrauen, das über-
haupt der Landbewohner dem Städter gegenüber hegt. Er fürchtet immer,
man wolle sich über ihn lustig machen. Zuweilen begegnet man auch dem
Argwohn, die Polizei könnte dahinter stecken, weil ja in manchen Gegenden
das Singen im Wirtshaus und sogar auf der Straße verboten ist. So
erging es mir einmal mit dem Wirte eines einsam gelegenen vogtländischen
Dorfes, bei dem ich eingekehrt war. Ich fragte ihn, ob denn auch Sonntags
beim Tanze fleißig gesungen werde. Da versicherte er mir mit ernster
Miene, das sollte ich ja nicht denken: „bei mir geht es immer sehr mora-
lisch zu!“ Dieses Mißtrauen zu Überwinden ist eine schwere Aufgabe. Mir
kam im Vogtland sehr zu statten, daß ich Verwandte und Freunde auf dem
Lande hatte, und namentlich daß mein Bruder damals dort Geistlicher war.
Dadurch war ich in der dortigen Gegend so zu sagen eingeführt. Wer
Volkstümliches sammeln will, darf nicht als zugeknöpfter Städter kommen,
er darf sich auch nicht zudringlich den Leuten nähern. Wünschenswert ist
es, daß er die Volksmundart versteht und seine Redeweise mundartlich färbt.
Darum sind alle die, welche auf dem Lande aufgewachsen sind und die Sprech-
weise und die ganze Art des Landvolks genau kennen, am besten geeignet
zu solchen Sammlungen, wie die Söhne und Töchter von Geistlichen und
Lehrern, auch jüngere Lehrer selbst. "
Welche Schwierigkeiten man zuweilen zu überwinden hat, dafür kann
ich ein lehrreiches Beispiel anführen. Ich hatte erfahren, daß in einem
Städtchen die in einem großen Lumpengeschäft arbeitenden Mädchen mit Vor-
liebe Volkslieder sängen. Mit Erlaubnis des Geschäftsinhabers ging ich hin.
In einem großen, staubigen Saale sah ich eine große Menge Mädchen,
dazwischen auch einige ältere Frauen damit beschäftigt, Lumpen, die in
mächtigen Ballen aufgestapelt lagen, an feststehenden Messern und Sensen
in kleine Stücke zu zerreißen. Der freundliche Geschäftsinhaber erklärte den
Mädchen, was ich wollte, und ließ mich dann mit ihnen allein. Ich fragte
die Mädchen, ob sie dieses oder jenes Lied kennten. Von allen Seiten ver-
legenes Lächeln, dann endlich — jal Auf meine Aufforderung, doch einmal
das Lied zu singen, erfolgte neues Lachen. Keine wollte anfangen. Ich
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