260 Hermann Dunger: Volksdichtung in Sachsen.
fragte nach anderen Liedern. „O ja, die kennen wir schon“, so lautete es
hier und da, aber keine fing an. Nun sang ich selbst einen Vers vor.
Zunächst wieder Lachen, dann ein halbverlegenes: „Ja, das können wir auch“.
Aber keine stimmte ein. Nun mengten sich die älteren Frauen ein und
schalten die Mädchen: sonst sängen sie den ganzen Tag und jetzt thäten sie
so, als ob sie gar nichts könnten. Ich stimmte wieder ein Lied an: jetzt
endlich wagte ein Mädchen schüchtern mitzusingen, aber da die anderen nicht
einstimmten und wieder lachten, so hörte sie verlegen wieder auf. Ich ließ
mich nicht abschrecken und fragte nach dem Wortlaute einiger Lieder, wie
der oder jener Vers bei ihnen laute. Jetzt endlich erhielt ich eine Antwort;
ein Wort gab das andere, allmählich verlor sich die Befangenheit, und als
ich nun wieder ein Lied anstimmte, da setzten einige kühn mit ein und hielten
trotz des Lachens der anderen aus, und nun war das Eis gebrochen. In
ununterbrochenem Strome folgte ein Lied auf das andere, und schließlich
waren die Mädchen so eifrig geworden, daß, als die Mittagsstunde herankam
und sie eine Stunde Freiheit hatten, manche auf dem Saale zurückblieben,
um mir noch weitere Lieder mitzuteilen. Ich hatte drei Stunden dort zu-
gebracht und eine ausgezeichnete Ernte gehalten.
Ich habe bisher von dem Volkslied im allgemeinen gesprochen. Werfen
wir nun noch einen kurzen Blick auf die einzelnen Gattungen der Volls-
dichtung in Sachsen. Wir haben hier zu unterscheiden die größeren
Volkslieder, die Vierzeiler oder Tschumperliedle oder Rundas, wie
sie im Vogtland heißen; ferner die nicht gesungenen Reimsprüche, die
Kinderlieder mit den Kinderspielen und die Weihnachtsspiele.
Bei den größeren Volksliedern unterscheidet man weltliche und
geistliche. Die letzteren finden sich häufiger in katholischen Gegenden,
einige wenige habe ich auch aus dem Vogtland gesammelt, wo sie sich in
dem Munde bettelnder Kinder, namentlich der „Treuischen Bettelbub'n“ er-
halten haben.“) Die weltlichen zerfallen in geschichtliche Lieder, deren
es nicht eben viele giebt — soweit sie mit dem Heere zu thun haben, sind
sie in der Freytag'schen Sammlung veröffentlicht, — in Balladen, Liebes-
lieder, Geselligkeitslieder, Scherzlieder, Ständelieder u. a. Im
allgemeinen ist der Volksliederschatz Sachsens nicht wesentlich verschieden von
dem anderer Gegenden Deutschlands. Ebenso wie die Sprichwörter und die
volkstümlichen Redensarten sind auch die Volks= und Kinderlieder in ihrem
Hauptbestandteil Gemeingut von ganz Deutschland. Doch ist es von Wichtig-
keit, die Fassung der einzelnen Lieder in den verschiedenen Gauen kennen zu
lernen, weil sie meist allerlei Verschiedenheiten aufweisen. Es ist durchaus
*) Eines davon hat E. R. Freytag in der Zeitschrift „Unser Bogtland“ II S. 314
veröffentlicht.