Eugen Mogk: Sitten und Gebräuche im Kreislauf des Jahres. 299
Geschichte und geschichtliche Entwickelung hinwegsetzte und durch falsche Kom-
bination Zeugnisse in engsten Zusammenhang brachte, die ganz verschiedenen
Ländern, ganz verschiedenen Zeiten angehörten. Die eine historische That-
sache, daß man um die Mitte des 17. Jahrhunderts, als der Leipziger Magister
Prätorius seine Weihnachtsfratzen schrieb, eine Weihnachtsfeier, wie wir sie
haben, noch nicht kannte, macht die Ansicht von dem urgermanischen Feste
der Wintersonnenwende utopisch und lehrt, daß unser Christbaum, unser
Weihnachtstisch und andere Bräuche, die sich an diese Tage knüpfen, Erzeugnisse
der Neuzeit sind. Sprachliche und kulturgeschichtliche Beobachtungen stützen
diese Thatsache. Das nordische „Jul“ hat etymologisch nichts mit dem Rade
oder gar der Sonnenscheibe zu thun, sondern ist höchst wahrscheinlich sprachlich
mit lat. joculus „Heiterkeit, Scherz, Vermummung“ verwandt. Auch haben
unsere Vorfahren erst dann die wiederkehrende Sonne begrüßt, als sie ihre
Einwirkung auf die sie umgebende Natur wahrnahmen. Daß dies aber nicht
Ende Dezember geschieht, wissen wir alle aus Erfahrung. Es kann also bei
den alten Germanen von einer Begrüßung der wiederkehrenden Sonne in
der Julzeit nicht die Rede gewesen sein. Vielmehr scheinen zu Fastnacht
und Ostern noch Uberreste in Sitte und Brauch fortzuleben, die auf jene
Begrüßung hinweisen. Gleichwohl leben unstreitig auch in der Weihnachts-
zeit noch alte Bräuche unserer Vorfahren fort, nur sind sie auf anderen
Gebieten zu suchen, als auf dem des Götterglaubens, der Religion; sie
wurzeln vielmehr auf dem schon damals zum Volksglauben herabgesunkenen
Seelenglauben.
Wenn bei unseren Vorfahren das wirtschaftliche Jahr zu Ende war,
dann begann die Zeit des Einschlachtens und mit ihr die Tage der Schmau-
sereien und Gelage. Das war nach unserer Zeitrechnung Anfang November.
Noch heute pflegt man vielfach an diesem alten, aus wirtschaftlichen Be-
dingungen entsprossenen Brauche festzuhalten, denn im November ist das
Schweineschlachten noch vieler Orten auf der Tagesordnung. Diese Beschäftigung
und die Schmausereien, die sich daran knüpften, dauerten meist wochenlang,
zumal das entbehrliche Vieh nicht auf einmal, sondern nach und nach ge-
schlachtet wurde. So füllten sie den Schluß unseres bürgerlichen Jahres.
Das war aber auch zugleich die Zeit, in der die gesamte Natur ruhte, in
der die Winde mehr heulten als sonst. Und in diesen Wochen feierten unsere
Vorfahren ihr großes Totenfest: in ihnen trieben die Geister der Abgeschiedenen
ihr Wesen, die Heere der Seelen sausten durch die Lüfte, bald führerlos, bald
geleitet von dem Wind= und Totengott Wodan oder von irgend einem Dämon.
Auch diese seelischen Wesen nahmen nach dem Glauben des Volkes an den Ge-
lagen teil, man bereitete ihnen an gewissen Orten das Mahl, und wenn jemand
in der Familie während des Jahres gestorben war, da wurde ihm an seinem Platze
der Tisch gedeckt. Wir werden beim Aberglauben sehen, wie diese Geister der Ver-