316 Eugen Mogt: Aberglaube und Volksmythen.
zumal wenn wir unsere Blicke zugleich mit auf vergangene Zeiten werfen
und von unkultivierten Völkern gelernt haben, was die Seele eines natürlichen
Volkes zum Glauben an ein höheres Wesen treibt. Seitdem die Wissenschaft
aufgehört hat, durch unberechtigte Kombination Glaubensäußerungen ver-
schiedener indogermanischer Völker zusammenzubringen und daraus indo-
germanische Urmythen zu konstruieren, seitdem die vergleichende Völker= und
Religionskunde uns gelehrt hat, daß die menschliche Phantasie unter gleichen
Voraussetzungen in den verschiedensten Ländern der Erde auch gleiche oder
ähnliche Glaubensvorstellungen erzeugt hat, seitdem ist uns auch der Glaube
unserer Vorfahren und mit ihm der Aberglaube der Gegenwart klarer und
verständlicher geworden.
Zwei Dinge unsrer Erdenwallfahrt haben von jeher einen tiefen Ein-
druck auf das menschliche Gemüt gemacht und den Glauben an höhere Wesen
erzeugt und groß gezogen: das ist auf der einen Seite der Tod und sein
Bruder, der Schlaf, auf der anderen die Erscheinungen im Reiche der Natur.
Man hat in diesem etwas gefühlt, das der natürliche Mensch mit seinen
Sinnen nicht begreifen kann, man hat sich diesen höheren Gewalten unter-
geordnet, man ist bemüht gewesen, sie zu besänftigen, wenn sie zu zürnen
schienen, sie freundlich zu stimmen, man hat ihnen aber auch Eigenschaften,
Gefühle, Neigungen zugeschrieben, wie sie der Mensch selbst hat, und die
Phantasie hat von ihnen zu erzählen gewußt, wie sie persönlich handeln und
ihren Neigungen namentlich den Menschen gegenüber Ausdruck geben. So
ist bei den heidnischen Bölkern, so ist auch bei unseren Vorfahren einerseits
der religiöse Kult, andererseits der Mythus, d. i. die poetische Ausgestaltung
übernatürlicher Wesen, entstanden. Kult und Mythus aber sind nie die
Sache einzelner Individuen, sondern einer Gesamtheit, die wir als Gesell-
schaft oder Staat zu bezeichnen pflegen. Solange nun ein Volk in seiner
Gesamtheit an den Glaubenssatzungen festhält, sind diese sein lebendiger Glaube,
seine Religion. Allein dieser Glaube ist, wie alle menschliche Einrichtung,
nichts stetes, sondern ist dem Wechsel der Zeiten unterworfen: mit der weiteren
geistigen Entwickelung eines Volkes, durch die Berührung, den Verkehr mit
anderen Völkern ändert sich auch der Glaube an höhere Wesen; ein Teil
des alten Genossenschaftsglaubens wird abgestoßen und nicht mehr als staatlich
berechtigt anerkannt. Aber mit diesem Vorgange schwindet der alte Glaube
nicht aus den Herzen, er bleibt vielmehr bei einem großen Teil des Volkes
zurück, wenn er auch hier, da er nicht mehr von Staatswegen gepflegt wird,
immer mehr und mehr verblaßt, bis schließlich sein Inhalt ganz vergessen
und nur noch die tote Form übrig geblieben ist. Der lebendige staatliche
Glaube ist zum Volksglauben geworden oder Mißglauben, wie ihn Luther mit
Vorliebe nennt, zum Aberglauben, wie wir ihn in Anlehnung an das nieder-
beutsche overgeloof (= superstitio) seit dem 16. Jahrhundert zu nennen pflegen.