Eugen Mogk: Aberglaube und Volksmythen. 333
in denen der Mensch sein zukünftiges Los deutlicher erfahren zu können glaubt,
als zu anderer Zeit. Es wäre natürlich ein Irrtum, wollte man alle diese
Schicksalsfragen und Beobachtungen der uns umgebenden Welt unmittelbar
aus dem Seelenglauben ableiten. Kein Mensch denkt heute noch daran, daß
ihm die Geister die Zukunft künden. Von dem lebendigen Glauben ist nichts
übrig geblieben als das Endergebnis: die Zwölf Nächte künden dir dein
Schicksal. Dies Ergebnis aber hat fortgewuchert auf dem Boden der Volks-
phantasie und hier immer neue Blätter, immer neue Früchte getrieben, denn
auch auf dem Gebiete des Aberglaubens hat die Volksseele nie geruht und wird
es auch nicht thun, so lange das Volk über den Zusammenhang der Dinge
nachdenkt. Wir mögen wohl die krankhaften Ausläufer des Aberglaubens
unterbinden und bekämpfen — und das ist unsere Pflicht —, den Aber-
glauben selbst aber werden wir niemals ausrotten. Und noch eins. Wir
pflegen den Aberglauben immer nur von der schwarzen Seite anzuschauen
er hat auch eine lichte: in ihm wurzelt die zarteste Dichtung unseres Volkes,
die Märchen und Sagen, die Erzählungen von Zwergen und Riesen, von
Nixen, Moos= und Waldfräulein, von Elfen und Wichtelmännchen. An
dieser Poesie hat sich unser Volk Jahrhunderte erfrischt und ist dabei
natürlich und gesund geblieben. Wollte Gott, wir könnten sie ihm wieder-
geben oder erhalten, wir würden gern über manchen abergläubischen Zug in
ihnen ein Auge zudrücken. Denn solche haben unserer Volksseele noch nie
geschadet, die Tageslitteratur aber, die jene schlichte Poesie verdrängt hat, die
ist es, die ihr nur zu oft Gift einträufelt und das zerstört, was unser Volk
Jahrtausende sein Eigentum genannt hat: Zufriedenheit, Gottesfurcht, Freude
an der Natur und an der Poesie des Lebens, Liebe zur heimischen Erde und
zum Vaterlande, in dem die Wurzeln unserer Kraft bleiben werden, so lange
wir überhaupt noch Ideale besitzen.
Schlubemerkung.
Bei einer jungen Wissenschaft, wie es die Volkskunde ist, bedarf vor allem die
Methode, mit der die Erscheinungen des Volkslebens behandelt werden, gründlichen Aus-
baues. Erst wenn unter den Forschern über die Methode Einheit erlangt ist und wenn
diese Festigkeit gewinnt, werden wir im stande sein, die schwierigen Aufgaben, die die
Volkskunde stellt, zu lösen. W. H. Riehl, der Vater der wissenschaftlichen Volkskunde,
hat einmal treffend geäußert: „Die bloße Kenntnis der Thatsachen des Volkslebens giebt
niemals eine Wissenschaft vom Volke; es muß die Erkenntnis der Gesetze des Volks-
lebens hinzukommen und zu einem Organismus geordnet werden“ (Kulturstudien S. 220).
Solche Erwägungen veranlaßten mich in den beiden Aufsätzen über Volkssitte und Volks-
mythen unseres Stammes nicht das Hauptgewicht auf die Aufzählung von Thatsachen zu legen,
sondern nur eine Reihe solcher herauszugreifen, diese in ihrer geschichtlichen Entwickelung zu
verfolgen und der Volksseele nachzugehen, die sie hat keimen, sprossen und wachsen lassen.