Full text: Sächsische Volkskunde.

Johannes Walther: Sprache und Volksdichtung der Wenden. 343 
wird der Unbefangene und selbständig Urteilende bei einiger Kenntnis der 
sorbischen Sprache auch von dieser gestehen: haec etiam lingua non habet 
osorem nisi ignorantem. 
Die Volksdichtung der Wenden") besteht in dem Volkslied, Volks- 
märchen und dem Volkssprichwort; nur das erstere, das Volkslied, wollen 
wir betrachten. 
Bezüglich des Volksliedes im allgemeinen bedarf es hier keiner Aus- 
führung; es sei auf die Arbeit von Prof. Dunger verwiesen. Ich will 
nur versuchen, auf die charakteristischen und dem wendischen Volkslied eigen- 
tümlichen Besonderheiten hinzuweisen. 
Daß die Art und das Gemüt eines Volkes, welches, wie oben erwähnt, 
in so vieler Hinsicht vom staatlichen und kulturellen Leben gewaltsam aus- 
geschlossen wurde, sich um so mehr nach innen in seinen Volksliedern aus- 
sprechen und offenbaren mußte, ist natürlich. Es nimmt uns daher nicht 
Wunder, daß wir einer sehr großen Anzahl von Volksliedern begegnen, daß 
der erste und hauptsächlichste Sammler der wendischen Volkslieder, Schmaler, 
in verhältnismäßig kurzer Zeit über 450 Volkslieder mit Originalmelodieen 
sammeln konnte, von denen ungefähr 300 der Oberlausitz, 150 der Nieder- 
lausitz angehören; es wäre diese Zahl mit den Varianten jener Lieder und 
mit den damals nicht gesammelten, unschwer noch um ein bedeutendes zu 
erhöhen. In neuester Zeit hat Dr. Mucke gegen 200 früher überhaupt noch 
nicht gesammelter Volkslieder und etwa eben so viel Varianten früher fixierter 
gesammelt. Daß die Volksdichtung unter den Wenden überhaupt noch nicht 
abgeschlossen ist, ist ein Beweis von der Lebenskraft des Volkes. Volkslieder 
im eigentlichen Sinne sind diese Weisen: Im Volke entstanden, vom Volke 
gedächtnismäßig überliefert, vom Volke gesungen sind sie in ihrer Schlicht- 
heit, Frische und Sanglichkeit Besitz des Volkes, weit mehr als die deutschen 
Volkslieder heutzutage im deutschen Volke. Die liberproduktion von 
Büchern, die Überschwemmung der Zeitungen, — dieser Mörderinnen des 
Volksliedes — überflutet glücklicherweise noch nicht unser Sorbenvolk; das 
Gedächtnis hält daher viel leichter bis zum Sarge fest, was schon über die 
Wiege und durch die Kindheitsträume klang. Immer gehören Weise und 
Volkslied, Melodie und Wort zusammen, und Herrn Prof. Dungers Er- 
fahrung habe auch ich gemacht: dazu, ein Volkslied herzusagen, bringt man 
*) Wir müssen verzichten einen Blick auf die Schriftdenkmäler und die Litteratur 
der Wenden zu werfen — von dem ältesten auf uns gekommenen Denkmale an, dem 
Bautzner Bürgereid aus dem 15. Jahrhundert, der im Bautzner Stadt= und Gerichtsbuch 
vorliegt, von den ersten Fragmenten von Bibelübersetzungen und religiösen Dichtungen, — 
bis zu den letzten diesjährigen Arbeiten selbstloser Männer, die ohne einen Pfennig äußeren 
Lohnes und weltlicher Ehre ihrem Stamm in seinem oft schweren Ringen helfen, das 
Erbe der Väter zu bewahren.
	        
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