Johannes Walther: Sprache und Volksdichtung der Wenden. 347
Wasser holen, verweilt sich mit ihrem Liebsten und kommt mit taunassem
Kränzlein zur Mutter, sie will sich ausreden, muß aber der klugen Mutter
zuletzt alles gestehen. Ähnlich, wenn auch derber, will sich im wendischen
Volkslied das Mägdlein ausreden, sie sei nachts Gras schneiden gegangen
und über etwas erschrocken, ohne Sichel und Gras nach Hause geeilt, bis
das Mütterchen ihr auf den Kopf zusagt, das seien Ausreden und Flausen.
Ebenso will in einem andern Volkslied die Tochter in der Kammer die
fragende Mutter, mit wem sie rede, beschwichtigen: 2 posleskom so rozpraju
— 27 posleskom so rozpowèm. Mit meinem Deckbett rede ich, mit meinem
Deckbett spreche ich; — und versichert auch der Mutter, die Kammer sei fest
verschlossen: „Wsako mam ju zamknjenu — Ze Sipu zatykanu; 2 hrocho-
wom zornom zawalenn — 2e slomièku zaprjenu; To hlej lepie dzerzi
mi — hac sesc dzesat zamkow.“ „Hab' sie verriegelt auf das Best' mit
einer Federspule fest, mit einem Erbsenkorn verhemmt, mit einem Strohhalm
zugestemmt. Das sichert besser meine Thür, als sechzig Schlösser, glaubt es
mir.“ Ob das sorbische Mädchen, welches ihren leichtsinnigen Burschen aus
Schuld und Gefängnis dadurch erlöst, daß sie dreimal splitternackt ums
Galgenhaus tanzt, mit der holden Gestalt der englischen Godiva innerlich
verwandt ist, sei dahingestellt. Gewisse Gestalten, gewisse Mächte, Bilder,
Zahlen, Formen u. s. w. dürften den Volksliedern aller arischen Völker ge-
meinsam sein und ein verwandtes Lied muß durchaus nicht immer die Quelle
oder der Ausfluß des anderen ähnlichen sein.
Gar oft dürfte der Kenner deutscher Volkslieder in sorbischen Volksweisen
Neues und Fremdes finden und sich über die Bedeutung vieler Worte und
Wendungen vieler Volkssitten und Volksmythen unterrichten müssen, ehe ihm
der Inhalt manchen Volksliedes verständlich und anschaulich wird. So er-
wähnten wir oben den pusty wjesor, den feierlich begangenen Vorabend vor
dem Begräbnis eines Toten und lassen nun hier einige in sorbischen Volks-
liedern häufig vorkommende Worte und Ausdrücke folgen, die auf wendischer
Erde jedem Kinde geläufig sind und die an die beiden Gegenpunkte von
Hochzeitsfest und Totenfeier anknüpfen. Ein in mancher Gegend viel-
gesungenes balladenartiges Volkslied ist der zrudny kwas, die traurige
Hochzeit'"); es lautet:
Hôlcy so na kwas hotowachn,
Swoje sej koniki sedlowachu.
Swoje sej wotrohi pfipinachu,
Do runcoh’ pola so ziézdiowachu.
*) Zum Titel sei bemerkt, daß dieser vom Sammler über das Lied gesetzt worden
ist. Volkslieder sind titel= und namenlos.