Johannes Walther: Sprache und Volksdichtung der Wenden. 351
unser Vogelhochzeitslied anfänglich kürzer, zu seiner heutigen Länge nach und
nach angewachsen ist. Denn dazu neigt das Volk, so lange es noch seine
Volkslieder singt, souverän dieselben nach Belieben zu ändern, meistens zu
verlängern, selten zu kürzen. Ob solche Verbesserungen nicht manchmal Ver-
wässerungen des kräftigen, prägnanten, ursprünglichen Liedes bedeuten, ist
eine andere Frage; aber ähnlich wie das begabte Kind nur das Spielzeug
liebt, an dem es etwas ändern oder mit dem es etwas bauen kann, so offen-
bart das Volk seine Gestaltungskraft an den Variationen seiner Lieder.
Diese Variationen sind ohne Schranken: hier wird das Lied verlängert,
dort ein Refrain geschaffen, dort ein Jodellaut eingeschoben, hier klingt ein
und dasselbe Lied in Trauer um ewiges Scheiden aus, dort finden sich die
Getrennten zu seliger Wonne; binnen weniger Jahre kann man ein scheinbar
stereotypisch gewordenes Volkslied in ganz veränderter Gestalt wieder finden.
Es ist eine naive Kindesart aber ebenso eine Freude am Gestalten und ebenso
eine Kraft zum Andern und Gestalten in diesen Varianten unverkennbar,
aus der die Seele des Volkes vor das innere Auge des Sammlers tritt und
zu seinem Herzen spricht. Freilich nur dann wenn er in sich die Fähigkeit
besitzt, diese Sprache der Volksseele zu vernehmen. Das schöne Wort Augustins
tantum intelligimus quantum colligimus gilt wie vom höchsten Prinzip
auch von des Volkes Art, Sprache und Lied. Und so möchte ich mit dem
Wunsche schließen, daß solche Kenner unserm wendischen Volke beschert würden
und seine Eigenart mit allen Schwächen und Vorzügen andern offenbarten —
ein Rosegger, der es beschreibt, ein Defregger oder Ludwig Richter, der es
malt, ein Chopin, der seine Weisen verklärt.
Näher aber noch liegt der Wunsch, daß man im lieben Sachsenlande
und im weiten deutschen Lande ein wenig Interesse, ein wenig Gerechtigkeit
und ein wenig gütige Gesinnung wahre für unseres Wendenvolkes Sprache,
Lied und Leben.
Tilkerakur.
Dr. Mucke, Historische und vergleichende Laut= und Formenlehre des Niedersorbischen,
(Leipzig 1891). — Prof. Dr. Pfuhl, Laut- und Formenlehre der oberlausitzisch-wendischen
Sprache. — Casopis maticy serbskeje. — Schmaler und Haupt, Volkslieder
der Wenden, (Grimma 1843). — A. N. Pypin, Das Serbisch-Wendische Schriftthum,
Leipzig, Brockhaus, 1884.
Hierzu kommen, besonders in Beziehung auf das wendische Volkslied, die Be-
obachtungen und Aufzeichnungen des Verfassers, zu welchen derselbe im Verkehr mit
seinen Parochianen in Lohsa (Laz) und Oßling (Wöslink) angeregt wurde.