Cornelius Gurlitt: Die Dorfkirche. 393
einen von Halluzinationen Geplagten hielt. Später wurden die Gestalten
völlig von der Kalkschicht befreit und konnten durchaus erneuert werden.
Solche Reste ältester Kunstübung sind für die Erforschung der Volksgeschichte
außerordentlich wertvoll.
Die geschilderte Kirchenform ist nicht die einzig erhaltene. Gelegentlich
ist die Ostendung der Choranlage gradlinig, in vereinzelten Fällen ist auch
die unter dem Namen des Karner bekannte eigentümliche Kirchenart erhalten:
bekannt ist mir freilich nur der Rest eines solchen zu Groitzsch und der
umgebaute zu Knautnaundorf. Es sind dies Rundbauten mit anstoßender
Apsis, letztere von 6 m innerem Durchmesser und etwa 1 m Maunerstärke.
Man dürfte sie auf den Anfang des 12. Jahrhunderts zurückdatieren; in
ihnen ist die vielleicht älteste Form sächsischer Dorfkirchen zu erkennen.
Mit dem 13. Jahrhundert kamen schlechte Zeiten über Sachsen. Es
findet sich wohl hier und da ein Kirchbau, der in diese Zeit zu rechnen ist.
Aber das 14. und die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts erwiesen sich im
allgemeinen als durchaus unfruchtbar. Merkmale dieser Zeit sind die aus
dem Achteck geschlossenen, mit vollen, birnförmig profilierten Rippen einge-
wölbten Chöre. Das beginnende 15. Jahrhundert wählt an Stelle der ein-
fachen Diagonalrippen gern ein reicheres Netz. Der Spitzbogen hat nun
schon überall den Rundbogen verdrängt. Im allgemeinen blieb aber die
Anordnung die alte. Es zeigt sich dieser Abschnitt des staatlichen Nieder-
ganges als unergiebig in geistiger Beziehung auch für die ländliche Kunst.
So wenig wie auf die Gestaltung der Hausformen hat die Gotik in ihren
ersten beiden Jahrhunderten in sächsischen Landen einen tiefer greifenden
Einfluß auf den ländlichen Kirchenbau ausgeübt.
Der Umschwung vollzog sich erst seit dem Ende der Bruderkriege,
namentlich seit dem Beginn der 80er Jahre des 15. Jahrhunderts. Diese
Zeit brachte für das ganze durch die Hussitenkriege verwüstete Gebiet nördlich
von Böhmen den segenreichsten Aufschwung.
In den Dorfkirchenbau dringt städtisches Können. Dr. Pfau hat in
seinem sehr lesenswerten Buche über die Geschichte des Steinbetriebes auf
dem Rochlitzer Berge darauf hingewiesen, daß die älteste Bauthätigkeit auf
dem Lande schwerlich, wie man zumeist annimmt, eine durch Mönche aus-
geführte oder auch nur geleitete gewesen sei. In der Einfachheit ihrer
Formen ist die Kirche des Frühmittelalters wahrscheinlich von den Dörflern
selbst aufgeführt worden. Betrachtet man die schwerfälligen über Lehrgerüsten
ausgeführten Gewölbe, so kann man nicht glauben, daß hier dieselben Meister
thätig waren, welche die romanischen Gewölbe in den Kirchen zu schlagen
verstanden. Das Steinwerk kaufte man im Bruch, so etwa die Fenster= und
Thürgewände, die Säulen u. s. w. Man verwertete es so gut man konnte.
Ungeschicklichkeiten beim Versetzen kunstvoller Steine sind nicht selten. Die