398 Cornelius Gurlitt: Die Dorffkirche.
Die Glocken forderten Türme. Die eigentliche Turmform der gotischen
Dorfkirche ist der schlanke Dachreiter mit hoher Spitze. Er erscheint in der
Regel auch dort, wo ein selbständiger Turm errichtet wurde oder wo dieser
vorhanden war. Wie die romanischen Türme schloß man auch im 15. Jahr-
hundert den Bau nach oben mit einem Satteldach zwischen zwei kleinen
Giebeln ab. Auf das Satteldach nun setzte man den Dachreiter. Das giebt
eine höchst reizvolle, malerische, echt ländliche Turmform, die freilich seit dem
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lies: aue maria (Oracka pilena deminus tecum.
Fig. 163. Inschrift an der größten Glocke der Kirche zu Rückmarsdorf. XVI. 111.)
17. Jahrhundert mehr und mehr verdrängt worden ist. Leider haben sich
auch 'die modernen Architekten diesen Gedanken nur zu oft entgehen lassen
und statt seiner verkümmerte Kathedraltürme angebracht, in jenem unglücklichen
Mißverstehen des Schicklichen, das der Grundfehler unserer Stilisten ist.
Die Geschichte der Turmuhren ist noch wenig bearbeitet. Ganz ver-
einzelt findet man noch an den Kirchtürmen Sonnenuhren. Der Hahn auf
der Spitze ist meist durch eine moderne Wetterfahne ersetzt.
Häufig sind auch noch aus gotischer Zeit stammende Grabsteine: sie
sind meist große Steinplatten; in diese ist die Gestalt des Begrabenen mit
derben Linien eingeritzt, am Rande die Inschrift, die zu Ende des 15. Jahr-
hunderts in der Regel deutsch ist, während etwa bis 1470 das Loateinische
vorwiegt. Solche Steine oder jene, die nur ein einfaches Wappen zeigen,
sollten als wertvolle geschichtliche Denkmale trotz ihrer Unscheinbarkeit überall
sorgfältig bewahrt werden.
Die Reformation brachte zunächst einen Stillstand im Bauen. Bis in
die 60 er und 70er Jahre des 16. Jahrhunderts ist das Ergebnis an Neu-
anlagen von Kirchen nicht bedeutend. Dagegen fängt zu dieser Zeit der
innere Ausbau der Kirchen an, die Gemeinden immer lebhafter zu beschäftigen.
Die zünftische Vorherrschaft der Steinmetzen ist überwunden. Die Kirchen,
meist vom Maurer hergestellt, behalten im wesentlichen die überkommene Form
mit ganz ohne höheren künstlerischen Antrieb geschaffenen Einzelheiten.
Das bezeichnende für diese Zeit ist zunächst der Emporenbau, der sich
in gleichmäßiger Folge bis in das 18. Jahrhundert fortentwickelt. Auf leicht