558 Cornelius Gurlitt: Die Zukunft der Volkstrachten.
„gehoben“, in den Sattel gehoben, nur zu oft mit so kräftigem Schwung,
daß sie alsbald auf der anderen Seite des Gaules wieder herunterfällt.
So mit der Kleidung. Der Rock des deutschen Bauern ist wohl schon
seit dem Mittelalter in den Städten gemacht worden. Lundisches Tuch —
also solches aus London — orientalische Seiden, vlämisches Leinen ist in
den Tuchhallen aller deutschen Städte schon sehr früh ausgelegt worden, von
den Tuchwalkern, Scheerern und Webern überall nachgeahmt worden. Man
muß die Geschichte, z. B. des Handels auf dem Mittelmeer oder der fland-
rischen und italienischen Städte verfolgen, will man sich einen Begriff von
der Handelsbewegungen dieser Zeiten machen. Wenn die Florentiner fast die
ganze Wolle Englands aufkauften, um den Orient damit zu versehen, wenn
ein Krieg zwischen dem christlichen Königreich Cypern mit dem Sultan von
Agypten schwere Handelsstockungen in Yeperen und Brüssel herbeiführt, so
sind das nur ein paar Züge, die Zeugnis ablegen sollen von der Bedeutung
des Welthandels selbst in der Zeit kurz nach den Kreuzzügen. Wenn die
sächsischen Kurfürsten im 15. Jahrhundert auf der Leipziger Messe ihre Ein-
käufe an Tuch machten und zugleich sich von Künstlern „Männlein" für die
Hofkleider, d. h. also „Figurinen"“ für die Uniformen ihrer Bediensteten
zeichnen ließen, so stehen wir Modeverhältnissen gegenüber, die den unfrigen
verwandt sind. Der sächsische Bauer trug im 16. Jahrhundert wohl kein
lundisches Tuch und nicht den Schnitt der Hofdiener, aber er trug sich
diesen so ähnlich als möglich, er ahmte die städtische Tracht nach, er gab
schon damals seine Volkstracht dahin, um eine Modetracht zu erlangen.
Das ist durch das ganze Volk so gegangen: man kleidete sich nach dem
Vorbild derer, die das Kleid am öftersten wechseln und am reichsten aus-
statten konnten. Das Geld entschied schon damals, während in der Volks-
tracht der Fleiß und das Geschick der Hausbewohner entscheidet. Gerade die
zahlreichen Kleiderordnungen, jene polizeilichen Maßnahmen gegen das Tragen
der dem Träger nicht zukommenden Kleidung legen Zeugnis hierfür ab.
Man irrt, wenn man glaubt, sie geben einen andern geschichtlichen Anhalt,
als daß sie uns darüber belehren, was verboten, also inwieweit das Em-
pfinden der Zeit für das Schickliche überschritten wurde. Weil wir heute
ein Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb im Geschäftsleben haben, hat dieses
doch nicht aufgehört. Das Gesetz bekundet nicht das Ende des verfolgten
Vergehens, sondern dessen vielfaches Vorkommen. Aus den Kleiderordnungen
und namentlich aus dem wiederholten Erlaß solcher dürfen wir nur auf be-
stehende Unordnung schließen, und das ist allemal das Hinübergreifen der
Niedrigstehenden in die Tracht der Höherstehenden. Daß so oft Kleider=
ordnungen sich nötig machten, zeigt nur an, wie lebhaft das Bestreben
war, gegen den in ihnen niedergelegten Geist der Beschränkung sich zu ver-
sündigen.