Full text: Sächsische Volkskunde.

Cornelius Gurlitt: Die Zukunft der Volkstrachten. 563 
Doch das ist nach der meisten Menschen Ansicht eine sehr veraltete, ja 
gefährliche Meinung. Der „Fortschritt“ und die „Gleichheit“ bäumen sich 
dagegen auf. Ich kenne die Theorie der Gleichheit der Menschen sehr wohl, 
aber seit ich sehen und denken gelernt habe, sind mir noch nie zwei gleiche 
Menschen begegnet. Ich habe mir daher meine Theorie der Ungleichheit ge- 
macht, die als Ziel die Herausbildung dessen hat, was in jedem Besonderes 
sitzt. Mir will scheinen, als sei es besser, die Pflanzen treiben zu lassen, und 
wenn selbst ein Gestrüpp daraus wird, als sie alle mit der Gärtnerschere zu 
beschneiden. Ich trage um dieser Ansicht willen gern den Vorwurf, veraltet 
zu sein; denn ich weiß, daß die Alten diese Ansicht nicht hatten. Wohl 
aber hoffe ich, daß die Jungen sie einst haben werden, wenn die seit 
30 Jahren sich jung Dünkenden erst in ihrer Altmodischkeit erkannt sind. 
Sonderart, geschichtlich begründetes Dasein, altväterische Sitte verträgt sich 
meiner Auffassung nach sehr gut mit Freiheit und mit Fortschritt: sie sind 
kein Widerspruch. Das freieste Volk sind die Engländer und mehr als das 
republikanische Parlament in Paris hat das monarchische in London auf den 
Gang der staatlichen Verhältnisse Einfluß, mehr als jenes ist es eine dem 
staatlichen Fortschreiten dienende Körperschaft. Und doch hat der Sprecher 
des Unterhauses noch heute die weiße Allongeperücke auf dem Kopfe und sitzt 
er auf dem historischen Wollsack. Das ist der Ausdruck einer historischen 
Macht in England. Dort trägt der Vornehmste die überkommene Tracht, 
bei uns wollen wir mit dem Erhalten unten beginnen, nachdem die Vor- 
nehmen darauf verzichteten. Das ist ein Mißgriff, der ins Leere faßt. 
Wenn ich also mir sehr wenig Erfolg vom Festhalten der alten Volks- 
trachten erhoffe, so umsomehr vom Schaffen neuer. Die Volkskunde soll 
uns lehren, wie reich wir einst waren; sie soll uns anspornen, diese Reich- 
tümer neu zu schaffen. 
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