54 Ludwig Schmidt: Die germanischen Bewohner Sachsens vor der Slawenzeit.
verhältnissen zurückzuführen. Durch die mit diesen Vorgängen zusammen-
hängenden Abspaltungen von der Hauptmasse bildeten sich unter den West-
germanen drei große, durch Blutsverwandtschaft und gemeinsamen Kultus
vereinigte Stämme heraus: die Ingwäonen, Istwäonen und Herminonen.
In historischer Zeit bestanden diese Verbände jedoch nicht mehr; nur eine
Erinnerung daran war in der Tradition noch zurückgeblieben. Unter den
Herminonen hat sich ein Stamm, die Sweben, abgesondert, der sich in
verschiedene, ursprünglich zusammenwohnende Völkerschaften gliederte. Das
Hauptvolk waren die in der heutigen Mark Brandenburg und Niederlausitz,
sowie in den südlich davon gelegenen Teilen des Königreichs Sachsen rechts
der Elbe wohnenden Semnonen, bei denen das swebische Bundesheiligtum sich
befand; wir dürfen in diesen Gegenden die ältesten Sitze des noch ungetrennten
swebischen Stammes suchen. Zu diesem gehörten ferner die späteren Marko-
mannen, Quaden und Hermunduren. Uber die Zugehörigkeit zu den Sweben
differieren die Angaben unserer Quellen, so daß es schwer ist, zur Klarheit durch-
zudringen. Am weitesten geht Tacitus, der irrtümlicherweise außer den Hermi-
nonen (von Chatten und Cheruskern abgesehen) auch alle ingwäonischen Völker,
sowie die Nord= und Ostgermanen dazu rechnet, d. h. die vor der Erhebung des
Arminius freien Germanen. Nach Ptolemäus und Strabo waren Sweben
auch die Angeln und Langobarden, welche jedoch nachweislich zum ingwä-
onischen Stamme zählten. Außer auf den Semnonen ist auch auf den
Quaden der Swebenname später allein haften geblieben; letztere sind ohne
Zweifel mit den Sweben identisch, welche zu Anfang des fünften Jahrhunderts
en. Chr. das bekannte Reich in Spanien gründeten. Wahrscheinlich nach dem
Abzug der keltischen Bojer aus Böhmen um 60 v. Chr. sind sie von Mittel-
deutschland auf dem auch später wichtigen Verkehrswege durch die Lausitz
nach Böhmen gewandert und haben schließlich in Mähren festen Fuß gefaßt.
Die Markomannen d. h. Grenzleute saßen, als sie in der Geschichte bekannt
werden, am mittleren und oberen Main und wanderten im Jahre 9 v. Chr.
nach Böhmen, um sich dem römischen Machtbereich zu entziehen. Sie sind
wahrscheinlich von den Hermunduren ausgegangen. Ihre Abtrennung von
diesen erfolgte vermutlich gegen Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts
und zwar auf dem Wege, den später auch andere Völker eingeschlagen haben
(ogl. weiter unten), durch das Vogtland und über den Frankenwald; sie stand
mit dem großen Zug der Kimbern und Teutonen, der von den Maingegenden
ausgegangen zu sein scheint, im innigsten Zusammenhang.“) Die Bildung
des hermundurischen Stammes muß also vor diese Zeit fallen; derselbe hatte
*) Die als unzweifelhaft hingestellte Annahme Meitzens (Siedelungen und
Agrarwesen I, 383), daß schon 220 v. Chr. die Römer mit Hermunduren (Tylangiil,
Tulingi) in den Penninischen Alpen gekämpft hätten, ist ganz unsicher und schwerlich
aufrecht zu erhalten. "